Sonderfall Schweiz
Der Begriff Sonderfall spielt eine Rolle in der Politik und Selbstwahrnehmung in der Schweiz. Es ist dabei die Schweiz und ihre Geschichte, die als «Sonderfall» innerhalb der Geschichte Europas betrachtet wird. Es geht dabei vor allem um Erklärungsansätze für die überdurchschnittliche wirtschaftliche und politische Stabilität der Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates 1848. Ausführungen der Natur des «Sonderfalls Schweiz» können dabei tatsächliche historische oder territoriale Aussergewöhnlichkeiten aufgreifen, solche aber auch in Richtung eines politischen Mythos überhöhen, oft in die Richtung, dass der Schweiz als Staat Vorbildcharakter zukomme.
Oft zitierte Aspekte des Sonderfalls sind:
- die geographische Lage der Schweiz in den Alpen sowie die ethnische Eigenart der Bevölkerung als «alpines Hirtenvolk» bzw. der Schweiz als «Bauernnation». Damit einhergehend auch eine vermeintliche Mentalität mit Tugenden wie ausgeprägter Arbeitsfreudigkeit, Sparsamkeit, Sauberkeit und Vertragstreue.
- die moderne Schweiz (und auch die Alte Eidgenossenschaft) als «Willensnation», die auf freiwilliger Verträge und nicht aufgrund zwingender nationaler Zusammengehörigkeit beruht, damit einhergehend die starke Tradition des Föderalismus
- die aussenpolitische Schweizer Neutralität und das Abseitsstehen von europäischer Grossmachtpolitik
- eine Tradition von persönlicher Freiheit und direkter Demokratie
Der deutsche Begriff «Sonderfall» gilt als unübersetzbar und wird in der französischen und italienischen Schweiz als deutsches Lehnwort übernommen. Historisch geht das «Sonderfalldenken» auf das 19. Jahrhundert zurück. Voll ausgeprägt erscheint es in der berühmten Rede von Carl Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt, gehalten 1914 zur Frage der Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg. In den 1930er und 1940er Jahren griff die Geistige Landesverteidigung den Sonderfallgedanken auf.
Der Begriff «Sonderfall» blieb bis in die 1970er Jahre durchwegs positiv besetzt. Mit dem Beginn der europäischen Integration in der Nachkriegszeit wurde der Gedanke des «Sonderfalls» allerdings auch auf den «Alleingang» der Schweiz ausgedehnt und damit durch Kreise, die eine stärkere Annäherung an Europa wünschten, seit den 1990er Jahren zunehmend als «veraltet» oder «rückwärtsgewandt» oder gar als nationalkonservativen «Mythos» dargestellt.[1] In den späten 1990er Jahren wurde der Begriff der Swissness geprägt, das als politisches Schlagwort zum eigentlichen Gegenbegriff des «Sonderfalles» wurde, indem es Globalisierung und Weltoffenheit ausdrücke, während letzterer geprägt sei von einem Bedrohungskomplex und von Überfremdungsangst.[2]
Literatur
- Thomas S. Eberle (Hrsg.), Kurt Imhof (Hrsg.): Sonderfall Schweiz. Seismo, Zürich 2007, ISBN 978-3-03-777047-4.
- Georg Kreis: Sonderfall. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Christoph Blocher: Gedanken zum Geheimnis eines erstaunlichen Erfolgs. Den Sonderfall Schweiz begreifen. Schweizerzeit, Nr. 3, 28. Januar 2000.
Einzelnachweise
- «Eine ganze Reihe bedeutsamer Entwicklungen und Ereignisse hatte in den 80er und 90er Jahren das traditionelle Selbstverständnis des Landes erschüttert. Die Herausbildung der EU, die Globalisierung und das Ende des Kalten Krieges stellten das Land vor neue Herausforderungen. Die wachsenden Gegensätze zwischen den Generationen, den einzelnen Landesteilen sowie auch zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sorgten für Verunsicherung. Überdies zerstörte der neue Blick auf die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg den Mythos des wehrhaften und unabhängigen Kleinstaates. Das heroische Geschichtsbild der Schweiz, das man noch an den Diamantfeiern von 1989 inszeniert hatte, sowie auch das historische Verständnis einer kontinuierlichen Entwicklung des Sonderfalls Schweiz, das 1939, 1964 und noch 1991 beschworen worden war, konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. [...] Hinzu kommt, dass ein Grossteil des Schweizer Mythenschatzes, insbesondere aber das Bild der heroischen Schweiz, die stets wehrhaft ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit verteidigt hatte, im Diskurs über die Entstehungsgeschichte der jüngsten Landesausstellung gar keine Rolle mehr spielte. Einzig der Mythos der Willensnation und der Schweizer Sonderfall wurden diskutiert. Während sich im Mythos des Sonderfalls das überholte Selbstverständnis der Nachkriegszeit spiegelte und entsprechend kritisiert wurde, verkörperte die Idee der Willensnation jene moderne, leistungsfähige, weltoffene und kreative Schweiz, welche die Organisatoren der jüngsten Landesausstellung zu Beginn des dritten Jahrtausends zeigen wollten. Die Idee der Willensnation wurde als identitätsstiftender Mythos wahrgenommen, der Gegenwart und Zukunft genauso verkörperte wie die historische Tradition, ohne dabei dem Prinzip des überkommenen Sonderfalls zu huldigen.» Andreas Müller: Expo.nentielle Imagi.nation: Die Mediendiskussion zur Entstehungsgeschichte der Expo.02 (1993-2002). Ein Beitrag zur historischen Erinnerungskultur und Identitätsdebatte in der Schweiz der 90er Jahre. (2005).
- Hannes Nussbaumer: Den Sonderfall wiederbeleben oder entsorgen? Tages-Anzeiger, 6. Dezember 2007, S. 53, archiviert vom Original am 10. Oktober 2012; abgerufen am 17. Mai 2011.