Rechtspluralismus
Als Rechtspluralismus bezeichnet man das Nebeneinander zweier oder mehrerer Rechtssysteme oder Rechtstraditionen innerhalb eines sozialen Felds.[1]
Der Rechtspluralismus unterscheidet sich von der vergleichenden Rechtswissenschaft insbesondere dadurch, dass er sich auf nicht notwendig normierte, aber gleichwohl verbindliche Verhaltensregeln in einer Gesellschaft konzentriert, während die vergleichende Rechtswissenschaft sich mit einem internationalen Vergleich des positiven Rechts beschäftigt.
Typische Fälle von Rechtspluralismus finden sich insbesondere in Staaten, in denen religiöse Normsysteme wie die Scharia eine starke Rolle spielen und in (ehemaligen) Kolonien, in denen das durch die Kolonialmacht eingeführte Recht traditionelle Normsysteme nie richtig verdrängt hat. Rechtsanthropologen machen deswegen darauf aufmerksam, dass zum Beispiel in postkolonialen afrikanischen Staaten das staatliche Recht nur begrenzte Reichweite hat, weil es – auf europäischen Rechtstraditionen wie dem englischen Common Law basierend – eine mangelnde Passung mit gängigen Lebensvorstellungen und soziokulturellen Gesellschaftsstrukturen aufweist.[2] Große Teile der Bevölkerung suchen dort eher neotraditionelle Rechtsinstitutionen zur Lösung ihrer Konflikte oder Rechtsstreits auf, wobei sich aus der Konkurrenz auch lokale Formen gegenseitiger Kontrolle zwischen staatlichen und informellen Rechtsinstitutionen ergeben.[3]
In neuerer Zeit wird auch im Zusammenhang mit der Globalisierung das Nebeneinander von staatlichen Rechtsordnungen und neuartigen internationalen oder transnationalen Rechtsregimes wie der Lex mercatoria von einer Art Rechtspluralismus ausgegangen.[4][5]
Unterschieden wird ein starker Rechtspluralismus, bei dem die nebeneinander existierenden Rechtssysteme keine staatliche Anerkennung genießen müssen, sondern rein soziale Phänomene sein können.[6][7] Daneben bezeichnet der schwache Rechtspluralismus die Koexistenz staatlich anerkannter – oder universalistischen Normen entsprechender – Rechtssysteme.
Die Theorie des Rechtspluralismus wird auf den Rechtssoziologen Eugen Ehrlich zurückgeführt, der sich mit dem „lebenden Recht“ der Bukowina, einer Art ländlichem Gewohnheitsrecht innerhalb Österreich-Ungarns, beschäftigt hat.[8] Weiterentwickelt wurde sie von dem Rechtsethnologen Leopold Pospisil und von Gunther Teubner.[9]
Auch innerhalb eines Rechtssystems kann es dadurch, dass einzelne Rechtsnormen gemeinsam keine in sich stimmige Einheit bilden, zu Rechtsunsicherheit kommen. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet rechtsetzende Organe daher dazu, ihre Regelungen so aufeinander abzustimmen, dass „den Normaladressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen“.[10]
Literatur zur Einführung
- Thomas Duve: Was ist „Multinormativität“? – Einführende Bemerkungen. In: Rechtsgeschichte – Legal History. Band 2017, Nr. 25, 2017, ISSN 2195-9617, S. 88–101, doi:10.12946/rg25/088-101 (mpg.de [abgerufen am 27. Februar 2018]).
- Andreas Fischer-Lescano, Lars Viellechner: Globaler Rechtspluralismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Band 60, Nr. 34/35, 16. August 2010, S. 20–26 (bpb.de [abgerufen am 28. Februar 2018]).
- Peter Gailhofer: Rechtspluralismus und Rechtsgeltung. In: Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie. Nr. 66. Nomos, Baden-Baden 2016, ISBN 978-3-8487-2065-1, doi:10.5771/9783845262734 (Dissertation, Universität Zürich, 2014).
- Gunnar Folke Schuppert: Das Recht des Rechtspluralismus. In: Archiv des öffentlichen Rechts. Band 142, Nr. 4, 1. Oktober 2017, S. 614–631, doi:10.1628/000389117x15151513970373 (mohrsiebeck.com [abgerufen am 16. Juni 2019]).
- Ralf Seinecke: Das Recht des Rechtspluralismus. In: Grundlagen der Rechtswissenschaft. Nr. 29. Mohr Siebeck, Tübingen 2015, ISBN 978-3-16-153563-5 (Zugl. Dissertation, Universität Frankfurt am Main, 2013).
Siehe auch
Einzelnachweise
- Im Anschluss an John Griffiths: What is Legal Pluralism? Journal of Legal Pluralism 24 (1986), S. 2, passim.; vgl. mit weiteren Nachweisen etwa Wieland Lehnert: Afrikanisches Gewohnheitsrecht und die südafrikanische Verfassung: die afrikanische Rechtstradition im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Kultur und anderen Menschenrechten, LIT Verlag: Berlin-Hamburg-Münster, 2006, S. 87
- Emo Gotsbachner: Informelles Recht. Politik und Konflikt normativer Ordnungen. Lang: Frankfurt/M., 1995, S. 121–126
- Emo Gotsbachner: Informelles Recht. Politik und Konflikt normativer Ordnungen. Lang: Frankfurt/M., 1995, 102 ff.
- Lars Viellechner: Verfassung als Chiffre. Zur Konvergenz von konstitutionalistischen und pluralistischen Perspektiven auf die Globalisierung des Rechts ZaöRV 2015, S. 233–258
- Lars Viellechner: Transnationalisierung des Rechts. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2013
- John Griffiths: What is Legal Pluralism? Journal of Legal Pluralism 24 (1986) S. 1–55
- Wieland Lehnert: Afrikanisches Gewohnheitsrecht und die südafrikanische Verfassung: die afrikanische Rechtstradition im Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Kultur und anderen Menschenrechten, LIT Verlag: Berlin-Hamburg-Münster, 2006, S. 87
- Eugen Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts. Duncker & Humblot, München, Leipzig 1913, S. 393 ff. (archive.org [abgerufen am 28. Februar 2018]).
- Gunther Teubner: Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus. Rechtshistorisches Journal 15 (1996), S. 253–255, auch auf publikationen.ub.uni-frankfurt.de, 2005 (abgerufen am 26. Februar 2018).
- Zitat: „Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet […] alle rechtsetzende Organe des Bundes und der Länder, die Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, dass den Normaladressaten nicht gegenläufige Regelungen erreichen, die die Rechtsordnung widersprüchlich machen. Welche der einen Widerspruch begründenden Regelungen zu weichen hat, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Rang, der Zeitenfolge und der Spezialität der Reglungen“, BVerfGE 98, 106 [118 f.]. Zitiert nach: Mike Wienbracke, Staatsorganisationsrecht, Springer, ISBN 978-3-658-17199-5, S. 13.