Phrase (Linguistik)
Als Phrase bezeichnet man in der Linguistik eine syntaktische Einheit, die abgeschlossen, also „syntaktisch gesättigt“ ist, im Gegensatz zu Einheiten, denen noch Ergänzungen fehlen. Es handelt sich also um einen Spezialfall einer Konstituente. Im Rahmen der X-Bar-Theorie wird eine Phrase auch als „maximale Projektion (eines Kopfes)“ bezeichnet. Der in der germanistischen Tradition übliche Begriff Satzglied bezeichnet normalerweise Phrasen, ist aber enger gefasst, weil er nur auf im Satz verschiebbare Einheiten angewandt wird.
Die genaue Definition der Phrase unterscheidet sich je nachdem, welche Grammatiktheorie herangezogen wird. In einigen Konstituentengrammatiken werden beispielsweise einzelne Wörter zu den Phrasen gezählt, wenn sie keine weiteren Ergänzungen verlangen, während Dependenzgrammatiken eine syntaktische Einheit erst als Phrase anerkennen, wenn sie aus mehr als einem Wort besteht.[1]
Beispiele
Der folgende Satz dient als Ausgangspunkt:
„Nach der zu langen Party sind wir an den Fluss gefahren.“
Die folgenden Wortkombinationen im Satz werden von den meisten Grammatiken als Phrasen bezeichnet:
- zu langen – Adjektivphrase (AP)
- an den Fluss – Präpositionalphrase (PP)
- nach der (…) Party – Präpositionalphrase (PP)
- der zu langen Party – Nominalphrase (NP)
In jeder dieser Phrasen ist der Kopf der Phrase kursiv gedruckt. Der Kopf oder Nukleus einer Phrase bestimmt die syntaktische Kategorie der gesamten Phrase. Wenn der Kopf einer Phrase ein Nomen ist, ist die Phrase eine Nominalphrase; wenn der Kopf einer Phrase ein Adjektiv ist, ist die Phrase eine Adjektivphrase usw. Die strittigsten Fälle der Phrasenbildung sind der Status von Sätzen als Phrasen und der Status der Verbalphrase (siehe den verlinkten Artikel für Details).
Der Begriff der Phrase unterscheidet sich von dem Begriff des Satzglieds. Beispielsweise ist im obigen Satz die AP zu langen kein Satzglied. Das wesentliche Merkmal eines Satzgliedes ist, dass es im Deutschen an den Satzanfang verschoben werden kann. Da die AP zu langen nicht verschoben werden kann, ist sie kein Satzglied: *Zu langen sind wir nach der Party sehr schnell zum See gefahren. Weiterhin ist hier festzuhalten, dass alle Beispiele aus mindestens zwei Wörtern bestehen. Manche Grammatiken – z. B. die, die auf der X-Bar-Theorie aufbauen – würden auch das Wort wir als Phrase anerkennen, da wir als Subjekt des Satzes eine abgeschlossene Einheit bildet.
Phrasen in Phrasenstrukturgrammatiken
Der Phrasenbegriff ist vor allem mit den Phrasenstrukturgrammatiken (= Konstituentengrammatiken) assoziiert. Sätze können zerlegt werden, und viele der Konstituenten, die sich im Laufe der Zerlegung ergeben, sind Phrasen. Diese Phrasen werden im Strukturbaum mit …P angegeben, z. B.[2]
Dieser Strukturbaum zeigt nur eine der möglichen Analysen des Satzes. Im vorliegenden Kontext ist relevant, dass jede der oben angegebenen Phrasen im Baum durch das …P als Phrase identifiziert ist. Es gibt aber auch eine zusätzliche Wortkombination, die im Baum hier (aber nicht weiter oben) als Phrase angegeben ist, nämlich die finite Verbalphrase „sind wir sehr schnell zum See gefahren“.
Möglicher Dissens bezüglich dieses Baums könnte die einzelnen Wörter betreffen. Wie oben erwähnt, würden einige Konstituentengrammatiken des Satzes mehrere der einzelnen Wörter als Phrasen ansehen. Im Baum hier hingegen gelten nur diejenigen Wortkombinationen als Phrasen, die aus mehr als einem Wort bestehen, was eher dem traditionellen Gebrauch des Wortes Phrase entspricht.
Phrasen in der Dependenzgrammatik
Während der Phrasenbegriff ursprünglich den Phrasenstrukturgrammatiken (=Konstituentengrammatiken) entstammt, ist er durchaus auch auf dependenzgrammatische Strukturen anwendbar. Im Baum der Phrasenstrukturgrammatik oben ist jeder Teilbaum eine Phrase, der aus mehr als einem Wort besteht. So gesehen, enthalten die Bäume der Dependenzgrammatik auch Phrasen:[3]
Dieser Baum zeigt wiederum nur eine der möglichen dependenzgrammatischen Analysen des Satzes. Jeder Teilbaum, der aus mehr als einem Wort besteht, ist eine Phrase. In diesem Baum gibt es sechs Phrasen, und diese sechs Phrasen sind dieselben, die ganz oben erwähnt sind. Einer der Unterschiede zwischen den Bäumen ist jedoch, dass der Dependenzbaum die Phrasen nicht mit …P beschriftet (das P steht hier für Präposition). Eine finite Verbalphrase fehlt jedoch; die Wortkombination „sind wir sehr schnell zum See gefahren“ gilt hier nicht als Phrase, weil sie keinen kompletten Teilbaum bildet.[4]
Literatur
- Vilmos Ágel, Ludwig Eichinger, Hans-Werner Eroms, Peter Hellwig, Hans Heringer, Hennig Lobin (Hrsg.): Dependenz and Valenz: Ein internationalies Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin. Walter de Gruyter 2003/2006.
- Leonard Bloomfield: 1933. Language. New York. Henry Holt 1933.
- Noam Chomsky: Syntactic Structures. The Hague/Paris. Mouton 1957.
- Timothy Osborne, Michael Putnam, Thomas Groß: Bare phrase structure, label-less trees, and specifier-less syntax: Is Minimalism becoming a dependency grammar? The Linguistic Review 28, 315–364, 2011.
- Rulon S. Wells: Immediate Constituents, in: Language 23, 81–117, 1947.
- Lucien Tesnière: Éléments de syntaxe structurale. Paris. Klincksieck 1959.
Anmerkungen
- Die Konstituentengrammatik ist vor allem mit den Arbeiten von Leonard Bloomfield (1933), Rulon Wells (1947), und dem jungen Noam Chomsky (1957) assoziiert. Die Dependenzgrammatik fusst auf der Theorie von Lucien Tesnière (1959); siehe auch Ágel et al. (2003/6).
- Der Baum hier entspricht der Entwicklung der Konstituentengrammatik, wie sie ungefähr in den 1970er Jahren praktiziert wurde. Viele der modernen Konstituenzbäume sähen anders aus (und setzen z. B. nur binäre Verzweigungen an).
- Dependenzbäume wie derjenige hier sind in mehreren Dependenzgrammatiken eine häufige Erscheinung. Siehe beispielsweise Osborne et al. (2011).
- Ein grundlegender Unterschied zwischen den Strukturen der Dependenzgrammatik und denen der Konstituentengrammatik ist die An- bzw. Abwesenheit einer finiten VP, die als Konstituente gilt. Siehe dazu Tesnière (1959:103–105).