Pathologische Wissenschaft
Unter pathologischer Wissenschaft versteht man nach dem Erfinder des Begriffs, dem Nobelpreisträger für Chemie Irving Langmuir (1881–1957), die Forschung an nicht existierenden Phänomenen, bei denen die wissenschaftliche Selbstkontrolle eine Zeit lang versagt. Aufgrund von Wunschdenken wird ein behauptetes Phänomen so ernstgenommen, dass eine ansteigende Flut von Veröffentlichungen und Nachforschungen einsetzt, die dann aufgrund immer stärker werdender Zweifel schließlich zum Erliegen kommt.
Der Unterschied zur Pseudowissenschaft besteht darin, dass das Phänomen nicht vorausgesetzt und als wissenschaftlich anerkannt dargestellt wird, sondern eine scheinbar echte, verblüffende Entdeckung darstellt. Der Unterschied zur Parawissenschaft besteht darin, dass die Entdeckung in einem bereits etablierten Bereich stattfindet und diskutiert wird, dass also die Entdecker nicht von vornherein um die Anerkennung ihrer Arbeit kämpfen müssen.
Kriterien
Langmuir zählte bei einem Vortrag im Knolls Atomic Power Laboratory (KAPL) am 18. Dezember 1953 mehrere Kriterien auf:
- Der maximal beobachtbare Effekt wird durch eine Ursache von kaum beobachtbarer Intensität hervorgerufen; die Größe des Effektes ist im Allgemeinen von der Größe der Ursache unabhängig.
- Der Effekt hat eine Größenordnung, die an der Grenze der Beobachtbarkeit liegt; es sind wegen der geringen statistischen Signifikanz der Resultate sehr viele Messungen notwendig.
- Es wird ein Anspruch auf sehr hohe experimentelle Genauigkeit erhoben.
- Phantastische Theorien, die oft der Erfahrung widersprechen, werden aufgestellt.
- Kritik wird mit Ad-hoc-Erklärungen erwidert.
- Das Verhältnis von Anhängern zu Kritikern steigt zunächst an, um dann graduell wieder gegen null zu gehen.
Beispiele
Oft genannte Beispiele für pathologische Wissenschaft sind:
Die kalte Kernfusion wird ebenfalls oft zu den pathologischen Wissenschaften gezählt, obwohl sie die Kriterien für eine pathologische Wissenschaft nicht mehr erfüllt.[1]
Gründe
Ein oft gemeinsamer Nenner sind emotionale Gründe, die zum Ernstnehmen eines Phänomens führen. Die Franzosen fühlten sich in der Zeit des Nationalismus durch die deutschen Erfolge brüskiert und eiferten um wissenschaftliche Neuentdeckungen. Es ist bezeichnend, dass die nach der Stadt Nancy benannten N-Strahlen hauptsächlich in Frankreich erforscht wurden. Beim Polywasser hatte es nach den Anfangserfolgen und der eigenen Selbstüberschätzung der russischen Wissenschaftler an der nötigen internen Kritik gefehlt; die vorhandenen Warnzeichen einiger Mitarbeiter wurden geflissentlich ignoriert. Es war für die sowjetischen Wissenschaftler wegen ihres jahrelangen persönlichen Einsatzes dann sehr schwer, die These fallenzulassen (siehe auch eskalierendes Commitment).
Literatur
- Irving Langmuir: Pathological science. In: General Electric (Hrsg.): General Electric Research and Development Center report. 68-C-035, 18. Dezember 1953, S. 1–13 (amerikanisches Englisch, princeton.edu).
- John R. Huizenga: Kalte Kernfusion. Das Wunder, das nie stattfand Kapitel 12: Pathologische Wissenschaften. Springer Fachmedien Wiesbaden. S. 243–259
- Anna Leuschner: Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft: Eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Analyse am Beispiel der Klimaforschung Kapitel 2.3.1 Pathologische Wissenschaft und Druck in der Gemeinschaft. transcript Verlag 2014. S. 77–83
- Silvio Borner: Pathologische Wissenschaft Die Weltwoche vom 22. Oktober 2015
Einzelnachweise
- Luciano Ondir Freire, Delvonei Alves de Andrade: Preliminary survey on cold fusion: It’s not pathological science and may require revision of nuclear theory. In: Journal of Electroanalytical Chemistry. Band 903, 15. Dezember 2021, ISSN 1572-6657, S. 115871, doi:10.1016/j.jelechem.2021.115871 (sciencedirect.com [abgerufen am 22. Januar 2022]).