Passing
Unter Passing [ˈpɑːsɪŋ] (von englisch to pass for oder to pass as „als … durchgehen“, „sich als … ausgeben“) versteht man das soziologische Phänomen, dass die soziale Identität einer Person – etwa Geschlecht, Klasse, Rasse/Ethnie, sexuelle Orientierung oder eine Körperbehinderung – von Außenstehenden nicht erkannt wird und die Person damit nicht den mit dieser Identität verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen, Normen und Rechten unterliegt. So spricht man klassischerweise von erfolgreichem Passing, wenn ein Schwarzer mit sehr heller Haut für einen Weißen gehalten und entsprechend behandelt wird. Insbesondere in den USA ist dieses Phänomen sowohl im Alltag wie auch in der Forschung Thema.[1]
Die ethische Bewertung des Passing und des meist damit einhergehenden subjektiven sozialen Prestigegewinns kann höchst unterschiedlich sein: einerseits kann es als erfolgreiche Integration, andererseits insbesondere von Vertretern von Minderheitenrechten als politischer Opportunismus ausgelegt werden, da das „passing“ nicht an der Aufhebung sozialer Unterschiede und Diskriminierung orientiert ist, sondern gerade von solchen Unterschieden profitiert. Gleichzeitig kann es aber von der Gruppe, deren Identität der Passer annimmt, als Verletzung einer natürlichen Ordnung und Inanspruchnahme von Vorteilen interpretiert werden, die dem Betreffenden nicht zustehen, und entsprechende Feindseligkeit hervorrufen.
Die „passing novel“
Das Phänomen des Passing findet gerade in der amerikanischen Literatur ein starkes Echo; mittlerweile wird auch ein eigenes Genre, die sogenannte passing novel postuliert. Ein sehr bekanntes Beispiel ist Philip Roths Der menschliche Makel (2000).
Das früheste bekannte Beispiel einer 'passing novel' ist der französische Roman Marie; ou, L’Esclavage aux États-Unis (1835) von Gustave de Beaumont. Die ersten amerikanischen Autoren, die sich der Thematik annehmen, sind William Wells Brown mit Clotel; or, The President’s Daughter: A Narrative of Slave Life in the United States (1853) und The Garies and Their Friends (1857), von Frank J. Webb. William Wells Brown selbst war ein ehemaliger Sklave afroamerikanischer Herkunft, der mit seiner Autobiographie Narrative of William Wells Brown, a Fugitive Slave (1847) zu einem anerkannten Schriftsteller wurde. Allen Romanen des 19. Jahrhunderts ist dabei eigen, dass sie das Phänomen des Passing als durchweg positiv und ohne jede Ambivalenz beschreiben; sie verstehen sich als erfolgreiche Realisierung des amerikanischen Traums.
Dies änderte sich im 20. Jahrhundert, so etwa bei Nella Larsen und ihrem Roman Passing (1929), der wohl die sprichwörtliche Verwendung des Begriffs entscheidend prägte, und Jessie Redmon Fausets Plum Bun aus demselben Jahr. Fannie Hursts Roman Imitation of Life (1933) wurde bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen von Universal Pictures aufwendig verfilmt. Hier ist der politisch-emanzipatorische Kontext und die Ambivalenz des Passing selbst deutlich akzentuiert.
In jüngerer Zeit hat sich der Schwerpunkt der Thematik vom Roman weg hin zu Sachbüchern verlagert: Beispiele sind Shirlee Taylor Haizlips The Sweeter the Juice: A Family Memoir in Black and White, Life on the Color Line: The True Story of a White Boy Who Discovered He Was Black von Gregory Howard Williams und Love on Trial: An American Scandal in Black and White von Earl Lewis und Heidi Ardizzone. Black Like Me ist der Bericht des Journalisten John Howard Griffin über seine Erfahrungen als Weißer, der aufgrund seiner dunkleren Hautfarbe in den späten 1950ern als Schwarzer behandelt wurde. In seinem Essay White Like Me thematisierte Henry Louis Gates das Passing des Literaturkritikers Anatole Broyard.
Fallbeispiele
Die erst im 20. Jahrhundert gesetzlich eingeführte One-drop rule (Virginia 1924) kategorisierte Personen mit gemischter Herkunft sofort als Schwarze. In Louisiana wurden hingegen People of color, die als Weiße durchgehen konnten, als passe blanc bezeichnet. Der Bürgerrechtler Walter Francis White hatte vor allem weiße Vorfahren, identifizierte sich aber mit der schwarzen Community. Rachel Dolezal etablierte sich als Tochter weißer Eltern als Präsidentin der lokalen Abteilung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und Lehrbeauftragte (Instructor) für Afrika-Studien an der Eastern Washington University[2][3] und als Mitglied der Ombudsmann-Kommission der Polizei in dem kaum von Afroamerikanern bewohnten Spokane, Washington.[4] Im Juni 2015 entstand großes Medieninteresse, nachdem ihre Eltern öffentlich erklärt hatten, dass ihre Tochter Rachel gar keine Afroamerikanerin sei.[2] Der Fall gilt als ein Musterbeispiel des Passing.[5] Umgekehrt wird beim Umgang mit Weißsein dessen oft nachträgliche Konstruktion thematisiert. Beliebt sind auch Indianer als Vorbild. Der Umweltschützer Grey Owl gab sich als Indianer aus, der Schauspieler Iron Eyes Cody spielte als Amerikaner sizilianischer Herkunft viele Indianerrollen, Autoren wie Asa Earl Carter[6], Ward Churchill, Jamake Highwater und Yeffe Kimball gaben sich ebenso als zumindest teilweise Indianer aus, ebenso beansprucht etwa die Senatorin Elizabeth Warren indianische Vorfahren und Erbe.[7]
Literatur
- Aischa Ahmed: „Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen“. Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz. In: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Unrast Verlag, Münster 2005, ISBN 3-89771-440-X (Rezension h-soz-kult hsozkult.geschichte.hu-berlin.de)
Einzelnachweise
- Aischa Ahmed: „Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen“. Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz. 2005
- Daniel Victor: NAACP Leader Rachel Dolezal Posed as Black, Parents Say. In: New York Times. 12. Juni 2015, abgerufen am 12. Juni 2015.
- Polly Mosendz: Family Accuses NAACP Leader Rachel Dolezal of Falsely Portraying Herself as Black. In: Newsweek. 12. Juni 2015, abgerufen am 12. Juni 2015.
- Jessica Elgot: Civil rights activist Rachel Dolezal misrepresented herself as black, claim parents. In: The Guardian. 12. Juni 2015, abgerufen am 12. Juni 2015.
- Rachel Dolezal: „Falsche Schwarze“ fasziniert die USA. In: sueddeutsche.de. 13. Juni 2015, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 14. Juni 2015]).
- Maggie Nolan, Carrie Dawson (Hrsg.): Who’s Who? Hoaxes, Imposture and Identity Crises in Australian Literature. University of Queensland Press, St. Lucia 2004, ISBN 978-0-7022-3523-8, S. 16–17.
- Josh Hicks: Did Elizabeth Warren check the Native American box when she ‘applied’ to Harvard and Penn?. In: The Washington Post. 28. September 2012. Abgerufen am 14. Juni 2015.