Niccolò Tommaseo
Niccolò Tommaseo (* 8. oder 9. Oktober 1802 in Šibenik; † 1. Mai 1874 in Florenz) war ein italienischer Schriftsteller, Politiker und einer der bedeutendsten Lexikographen des Italienischen. Er schrieb, wie andere atmen, und hinterließ 233 Bücher und 162 „Opuscoli“ (Essays und kleine Werke) über fast alle Gebiete des Geisteslebens und der Philosophie. In den letzten Jahren vor seinem Tod erblindete er, diktierte aber unermüdlich weiter.
Leben
Der junge Journalist
Tommaseo wird als Sohn des italienischen Textilhändlers Girolamo Tommaseo und einer Mutter mit kroatischen Vorfahren geboren. Er wird zuerst im damaligen Spalato in ein Knabenseminar gesteckt, studiert dann aber in Padua die Rechte und wird schon mit 20 Jahren zum Doktor der Jurisprudenz promoviert. Jedoch er folgt bald seiner Neigung für die Literatur. In Padua wird Antonio Rosmini, der „Philosophenfürst“ und Priester, sein Leitstern, in Mailand verehrt er Manzoni und verfeindet sich mit Leopardi.
1827 geht er nach Florenz und arbeitet für die Vierteljahreszeitschrift Antologie von Giampietro Vieusseux (1779–1863). Nach zweien seiner polemischen Artikel, wiewohl anonym, durch die sich Österreich und Russland beleidigt sehen, werden die Antologie von der Zensur geschlossen, Tommaseo muss auf Druck der diplomatischen Vertretungen Österreichs und Russlands 1834 die Toskana verlassen und geht nach Paris.
Politische Aktivität der Jahre in Venedig
Im selben Jahr veröffentlicht er seine Schrift Dell'educazione (Über Erziehung, 1834), die innerhalb von zwei Jahren drei Auflagen erlebt, die politische Schrift Dell'Italia (Über Italien, 1835) und den Roman Il duca d'Atene (Der Herzog von Athen, 1836). Dell'Italia trägt ihm die Beschreibung der Geheimpolizei ein:...ein heißer Parteigänger der revolutionären Propaganda... eines der aufrührerischsten und am meisten zu fürchtenden Subjekte... ein erbitterter Feind der konstitutionellen Regierungen.[1]
Von 1838 an lebt er in Venedig, wo ein Jahr vorher sein Kommentar zu Dante erschienen war. Dort veröffentlicht er seine Nuovi scritti (1839–1840, 4 Bände), die Studj critici (1843, 2 Bände) sowie seine berühmte Sammlung Canti popolari toscani, corsici, illirici, greci (1841–42, 2 Bände).
Auch erscheint eine Bearbeitung der auf die Geschichte Frankreichs im 16. Jahrhundert bezogenen Gesandtschaftsberichte (1838, 2 Bände), und er gibt die Briefsammlung des korsischen Revolutionärs Pasquale Paoli, Lettere di Pasquale de' Paoli (1846), heraus. Er war katholisch geprägt, bekannte sich aber schon früh zu einem „gemäßigten Liberalismus“[1] und war, obwohl zwischen seiner dalmatinischen Geburtsheimat und Italien hin und hergerissen, zeit seines Lebens ein glühender Patriot und Nationalist. Seine doppelte dalmatinisch-italienische Identität beklagt er Jahre später: „Ich Unglücklicher, der sein Leben teilte zwischen einer Nation, die noch in der Wiege, und einer, die auf dem Sterbebett lag.“[1]
1842 erscheint sein psychologischer Roman ante litteram Fede e bellezza (Glaube und Schönheit), der mehrmals neu aufgelegt wurde und von der italienischen Literaturwissenschaft als sein Meisterwerk angesehen wird. Seine Vorbilder sind vor allem Antoine François Prévost (Manon Lescaut) und Charles Augustin Sainte-Beuve (Volupté).
1847 wird er als Revolutionär in Venedig zu drei Monaten Haft verurteilt, am 17. März 1848 gewaltsam befreit, ist er neben Daniele Manin eine der Galionsfiguren des Protests gegen die österreichische Herrschaft in Venedig. Als die Republik proklamiert wird, parallel zu den Unruhen in Wien, wird er für fünf Monate Kultus- und Unterrichtsminister in der provisorischen Regierung unter Manin. In dieser chaotischen Periode der Uneinigkeit unter den Revolutionären wird er zunehmend intransigent und will der Belagerung durch Feldmarschall Radetzky Widerstand leisten „bis zur letzten Polenta“.[1]
Exil in Korfu
Nach Divergenzen mit dem diplomatischeren Manin schickt man ihn als Botschafter nach Paris, aber er ist zu eigenwillig und verzichtet 1849 nach kurzer Zeit. Als Venedig am 30. August 1849 vor Radetzky kapituliert, steht Tommaseo unter vierzig anderen auf der Fahndungsliste, entzieht sich aber der Verfolgung durch das Exil in Korfu, wo er gezwungenermaßen zehn Jahre bleibt.[2] Die Aufteilung des Familienerbes verschafft ihm einen bescheidenen Lebensunterhalt.
Auch aus dem Exil schreibt er unentwegt. Als politischer Schriftsteller und Vorkämpfer für die Einheit Italiens misstraut er allerdings immer mehr militärischen Lösungen und sieht beispielsweise die Lösung der Römischen Frage nicht in der Eroberung des Vatikans, sondern in einem Verzicht des Papstes, dessen weltliche Herrschaft er in Roma e il mondo (Rom und die Welt, 1854) erbarmungslos verdammt, ohne seinen Katholizismus aufzugeben.
Auf Korfu heiratet er die Witwe Diamante Pavello. Sie hilft ihm bei seiner zunehmenden Sehschwäche bis zur vollständigen Erblindung (verursacht durch eine Syphilis, die er sich in Paris zugezogen hatte), und schreibt zusammen mit anderen seine Texte nieder. Zeitweise benutzt Tommaseo beim Diktieren für seine Schreibhilfen drei Schreibtische in benachbarten Zimmern.
Rückkehr nach Italien und letzte Jahre
Über seine Rückkehr nach Italien gibt es divergierende Angaben (s. o.). Er weigerte sich zunächst, eine Erklärung abzugeben, dass er sich von der Politik fernhalten und nichts mehr drucken lassen würde. Aber 1859 wird ihm trotzdem auf ausdrücklichen Befehl von Cavour ein Pass ausgestellt, mit dem er offiziell nach Italien (ins Sabaudische Königreich Piemont-Sardinien) einreisen konnte. Im selben Jahr zieht er nach Florenz um, wo er fünfzehn Jahre später an einem Schlaganfall stirbt.
In Florenz arbeitete er an der Zeitschrift l'Imparziale Fiorentino mit, die 1857 von Michele Luci, gegründet worden war, dem Sohn des Fürsten Poniatowski. Seine Opposition gegen das Königreich der Savoyer war total, 1866 lehnte er einen Sitz im Senat ab, und auch den Orden für zivile Verdienste, mit dem eine kleine Pension verbunden war, schlug er aus.
Würdigung
Tommaseo war einer der angesehensten Schriftsteller seiner Zeit. Er besaß einen vielseitigen und lebhaft beweglichen Geist und galt als Kritiker von großem Einfluss. Seit 1851 gehörte er der Accademia della Crusca in Florenz an.[3]
Seit 1865 publizierte Tommaseo gemeinsam mit Bernardo Bellini das monumentale, bis zur Gegenwart fortgeführte Dizionario della Lingua Italiana, das auch heute noch die Grundlage der italienischen Lexikographie darstellt.
Seine Korrespondenz mit den Geistesgrößen seiner Zeit umfasst viele tausend Briefe.
Werke (kleine Auswahl)
- Nuovo Dizionario de' Sinonimi della lingua italiana (Neues Synonymenwörterbuch, 1830, 7. Auflage 1887, 2 Bde.)
- Dell'Italia (1835)
- Commento alla Divina Comedia (1837)
- Dizionario estetico (Ästhetisches Wörterbuch, 1840, neue Aufl. 1872).
- Canti popolari toscani, corsici, illirici, greci (1841–42, 2 Bde.)
- Scintille (Funken, 1842)
- Fede e bellezza (1842)
- Supplizio d'un Italiano a Corfù (Gegen die Todesstrafe, 1855)
- Le lettere di Santa Caterina di Siena (1860, 4 Bde.)
- Il secondo esilio (1862, 3 Bde.), eine Sammlung seiner politischen Schriften
- Della pena di morte discorsi due (Zwei Reden über die Todesstrafe, 1865)
- Nuovi studj su Dante (1865).
- Dizionarietto morale, Successori Le Monnier, Florenz 1867, anastatischer Neudruck Le Monnier, Florenz 2002 zum 200. Geburtstag, ISBN 88-00-82103-0
- Leben Rosminis
- Dizionario della Lingua Italiana, (1865–1879, Vol. I 1 – IV 2).
- Un affetto – Memorie politiche (Rom 1974) Online-Teilansicht bis dahin unedierter Text.
Dizionarietto morale
Ein bemerkenswerter Sonderfall unter seinen Werken ist das Moralische Wörterbüchlein. Das „Büchlein“ umfasst immerhin 268 Seiten. Es zeigt deutlich wie kaum ein anderes Werk Tommaseos seine vielen Facetten: Paradoxie, Oxymoron, Ironie, Brillanz, Einfallsreichtum, politische Kühnheit, Scharfsicht, Wortspiele. In einer Unzahl von Gedankensplittern, Aperçus, Aphorismen kommentiert er Politik und Alltag. In seiner unsystematischen Anlage, wiewohl alphabetisch geordnet, erinnert es den deutschen Leser an die Sudelbücher Georg Christoph Lichtenbergs, in Moralismus und Sprache auch an den österreichischen Aphoristiker Karl Kraus.[4] Einige Zitate:
- Ohne gutes Gewissen gibt es keine gute Wissenschaft.
- Ein Gutteil der Logik ließe sich auf einen Traktat über das Komma reduzieren: Opus magnum.
- Mancher verleumdet, indem er die Wahrheit sagt.
- Die Ehe ist wie der Tod. Nur wenige kommen vorbereitet an.
- Politik ist die Kunst, Autorität zu erwerben, indem man vorspiegelt, sie zu haben.
Und bei vielen Stichwörtern gibt es nur einen Verweis auf ein anderes, zum Beispiel:
- Doktor. siehe Esel.
Nachleben
Acht Jahre nach seinem Tod, 1882, wurde in Venedig auf dem Campo Santo Stefano (offizieller Name Campo Morosini, aber den kennt kaum ein Venezianer) ein Denkmal für Tommaseo enthüllt, ein Werk von Francesco Barzaghi. Die Statue wurde bei den Venezianern so populär, wie es der Freiheitsheld gewesen war, und bekam den liebevoll gemeinten Spitznamen „il Caccalibri“ (im venezianischen Dialekt „el cagalibri“), „der Bücherscheißer“, weil unter seiner Zimarra, dem langen Gehrock gehobener Stände, ein Stapel Bücher hervorquillt, Symbol für Tommaseos enzyklopädisches Wissen, seine Belesenheit und seine reiche Bücherproduktion (und ein Trick des Bildhauers, der Figur mehr Standfestigkeit zu verleihen). In Florenz wurde an seinem Sterbehaus eine Gedenktafel angebracht.
Literatur
- Bernardi: Vita e scritti di Niccolò Tommaseo (Turin 1874)
- K. Hillebrand in der Allgemeinen Zeitung (Mai 1874).
- Constantin von Wurzbach: Tommaseo, Nicolo. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 46. Theil. Kaiserlich-königliche Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1882, S. 96–106 (Digitalisat).
- Pietro Paolo Trompeo: Tommaseo, Niccolò in Enciclopedia Italiana, Band 33, Istituto dell'Enciclopedia Italiana, Rom 1937.
- Aldo Borlenghi: L’arte di Niccolò Tommaseo, Verlag Meridiana, Mailand 1943.
- Raffaele Ciampini: Vita di Niccolò Tommaseo, Sansoni, Florenz 1945.
- Mario Puppo: Tommaseo, La Scuola, Brescia 1950.
- Aldo Borlenghi: Niccolò Tommaseo e il romanticismo italiano (N. T. und die italienische Romantik), Mailand 1967.
- Ettore Caccia: Tommaseo, Niccolò, Stichwort in Enciclopedia Dantesca, Istituto dell'Enciclopedia Italiana, Rom 1970.
- Arnaldo Di Benedetto: I racconti storici di Niccolò Tommaseo, im Sammelband Ippolito Nievo e altro Ottocento, Liguori, Neapel 1996.
- Annalisa Nesi: Tommaseo, Niccolò, Stichwort in Enciclopedia dell'Italiano, Istituto dell'Enciclopedia Italiana, Rom 2011.
Weblinks
- Literatur von und über Niccolò Tommaseo im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von und über Niccolò Tommaseo in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- Tommaseo, Niccolo. In: Enciclopedie on line. Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom. Abgerufen am 25. Dezember 2013.
Anmerkungen
- Dino Basili: Presentazione zum Dizionarietto morale, Le Monnier, Florenz 2002. S. VIII f.
- Hier differieren die Quellen. Laut Enciclopedia Treccani anonym: Tommaseo, Niccolò. Abgerufen am 27. April 2018., die allerdings nicht immer zuverlässig ist, kehrte er 1854 nach Italien zurück; andere Quellen wie Dino Basili datieren die Rückkehr auf 1859. Das erscheint wegen der Ausstellung eines Passes im Jahr 1859, der ihm die Rückkehr offiziell gestattete, glaubwürdiger.
- Mitgliederliste der Crusca
- Dietmar Polaczek Moralist des jungen Italiens – Der Literat und Revolutionär, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Januar 2002, Literatur.