Neurotheologie
Neurotheologie ist ein Ansatz innerhalb der Neurowissenschaften, religiöses Empfinden und Verhalten beziehungsweise Spiritualität und Transzendenzerfahrungen mit den Methoden der Neurobiologie zu erforschen.
Medizinische Beobachtungen
1975 veröffentlichten Waxman und Geschwind, dass Patienten mit Schläfenlappenepilepsie auffällige Veränderungen in Selbstgefühl und Verhalten entwickelten, unter anderem intensive Religiosität (hyperreligiosity).[1] 1998 veröffentlichte V. S. Ramachandran Verhaltensexperimente mit derselben Art von Patienten, bei denen sich eine erhöhte physiologische Reaktion speziell bei Wörtern religiösen Inhalts gezeigt hatte.[2]
Neurochemische Beobachtungen
Die psychoaktive Substanz Psilocybin, die in mehr als 200 Pilzarten vorkommt und die eine lange Kulturgeschichte hat, in den 1950ern erstmals popularisiert vom Ehepaar Valentina Pavlovna und R. Gordon Wasson, wurde im Hinblick auf mögliche medizinische Anwendungen erforscht. Die bereits lange bekannte Häufung von spirituellen, religiösen und mystischen Erlebnissen nach Einnahme der Droge wurde in einigen Studien bestätigt.[3][4][5][6][7] Auch wurde gezeigt, dass mystische Erfahrungen in Kombination mit Meditation und anderen spirituellen Praktiken zu positiven therapeutischen Ergebnissen führen können.[8]
Untersuchungen der sichtbaren Wirkung von Psilocybin im Gehirn durch bildgebende Verfahren zeigten keine Regionen gesteigerter Aktivität, sondern stattdessen mehrere mit herabgesetzter Aktivität. Als mögliche Erklärung wurde vorgeschlagen, dass durch die (bereits relativ gut bekannten) neurochemischen Effekte von Psilocybin das normale Gleichgewicht neuronaler Informationsflüsse gestört wird.[9]
Weitere – jedoch nicht reproduzierte – Experimente
Experimente, in denen mit außen am Kopf angelegten, extrem schwachen magnetischen Feldern bei 80 Prozent der Probanden angeblich das Gefühl der Präsenz einer „höheren Wirklichkeit“ erzeugt werden konnte, machten den kanadischen Neurologen Michael Persinger bekannt. Viele seiner religiösen Probanden sprachen davon, von Gott berührt worden zu sein, Atheisten dagegen von einer gefühlten Verbundenheit mit dem Universum. In einer Doppelblind-Studie einer Gruppe um Pehr Granqvist mit Magnetfeldstimulationen nach Persinger zeigte sich jedoch, dass Probanden, deren Helme (mit den Magnetspulen) nicht aktiviert waren, genauso häufig von spirituellen Erlebnissen berichteten wie jene, deren Helme aktiv waren.[10]
Bildgebende Verfahren setzte Andrew Newberg von der University of Pennsylvania ein, um der Meditationserfahrung neurowissenschaftlich näher zu kommen. Die Ergebnisse bezog er in neurobiologisch begründbare Theorien zur Bildung von Mythen und Ritualen ein. Unabhängige Wiederholungsstudien zeigen aber unterschiedliche Ergebnisse. So fanden Mario Beauregard und Vincent Paquette von der Université de Montréal mehr Gehirnregionen bei Meditationen besonders aktiviert, als Newberg angenommen hatte.[11]
In Deutschland beteiligte sich neben anderen der Hirnforscher Detlef Linke an Debatten zum Thema, auch mit populärwissenschaftlichen Büchern wie Religion als Risiko: Geist, Glaube und Gehirn[12] und mit Vorträgen.
Religiöse Deutungen
Vereinzelt zu beobachten sind Versuche religiöser Deutungen neurobiologischen Geschehens, etwa bei Laurence McKinneys Buch Neurotheology: Virtual Religion in the 21st Century,[13] das sich um eine neurologische Legitimation des Buddhismus bemüht. Es gibt darüber hinaus Untersuchung bezüglich Parallelen der im Buddhismus beschriebenen Selbst-Illusion[14] und moderner Bewusstseinsphilosophie der "Erfahrung für niemanden"[15]
Literatur
- Andrew Newberg, Eugene D’Aquili, Vince Rause: Der gedachte Gott, Piper, München 2003, ISBN 3-492-24138-7
- Gerald Wolf: Wissenschaftsromane
- Der HirnGott, dr. ziethen verlag 2005; 2. Aufl. Sich Verlag 2008, ISBN 978-3-9811692-8-7.
- Glaube mir, mich gibt es nicht. Sich Verlag 2009, ISBN 978-3-9812628-0-3. Das Gottesmodul. Glaube mir, mich gibt es nicht! 2019, ISBN 978-1-5210-7253-0.
- Detlef Linke: Identität, Kultur und Neurowissenschaften., in: Gephart W et al: Religion und Identität im Horizont des Pluralismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main (1999) 72–80, ISBN 3-518-29011-8
- S. Begley, A. Underwood: Religion and the Brain. In: Newsweek. (USA), 7. Mai 2001.
- Ury Hafner: Gott im Kopf. Wie die Wissenschaft den Glauben erklärt, in: Stapferhaus Lenzburg (Hg.), Glaubenssache. Ein Buch für Gläubige und Ungläubige, Baden 2006, 54–60, ISBN 3-03919-038-5.
- Rüdiger Vaas: Gott und Gehirn, in: Peter R. Sahm u. a. (Hrsg.): Der Mensch im Kosmos. Discorsi Verlag, Hamburg 2005, 181–208, ISBN 3-9807330-8-4.
- Angelika Karger, Ahmed Karim: Zur Kritik der Neurotheologie, Forum Technik, Theologie, Naturwissenschaften, Nr. 16, 19–36, München 2006, ISBN 3-89675-956-6.
- Rüdiger Vaas, Michael Blume: Gott, Gene und Gehirn, Hirzel, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-7776-1634-6
- Michael Blume: Neurotheologie – Hirnforscher erkunden den Glauben, Marburg 2009, ISBN 978-3-8288-9933-9
- T. Passie, J. Warncke, T. Peschel, U. Ott: Neurotheologie, Der Nervenarzt 84, 2013, S. 283–293, Übersichtsartikel, Zusammenfassung und Literaturliste online
Weblinks
- Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen: "Neurotheologie"
- Sabine Müller, Henrik Walter: "Religiöse Gehirne: Neurotheologie und die neurowissenschaftliche Erforschung religiöser Erfahrungen", in: Nervenheilkunde 12/2010, S. 684–689 (freier Download)
- Marcus Knaup: "Wohnt Gott im Gehirn?", in: sciencegarden - Magazin für junge Forschung 03/2007
- Lisa Peter: "Religion - Hirngespinst oder evolutionärer Vorteil?", in: In.Put (Wissenschaftsmagazin Universität Tübingen) 03/2007
- Christa Tamara Kaul: Warum der Mensch glaubt (Telepolis)
- Hans Goller: Religiöses Erleben und Hirntätigkeit. Eine Auseinandersetzung mit der Neurotheologie, Audiodateien der Konferenz "Ich denke, also bin ich Ich?" 2005
- Ulrich Schnabel: Unterm Mystikhelm. Hirnforscher erkunden die Wirkung religiöser Überzeugungen auf Körper und Psyche. Wie die Naturwissenschaft auszog, Gott zu suchen – und dabei den Glauben fand. ZEIT Online, 07/2010.
Einzelnachweise
- Waxman SG, Geschwind N. "The interictal behavior syndrome of temporal lobe epilepsy." Arch Gen Psychiatry 32, 1975, S. 1580–1586
- Vilaynur S. Ramachandran, Sandra Blakeslee, "Die blinde Frau, die sehen kann: Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins" Rowohlt Tb. 3. Auflage 2002, ISBN 978-3-499-61381-4 (Originaltitel: "Phantoms in the Brain: Probing the Mysteries of the Human Mind" Quill William Morrow, New York 1998, 328 pages)
- Griffiths RR, Richards WA, McCann U, Jesse R. "Psilocybin can occasion mystical-type experiences having substantial and sustained personal meaning and spiritual significance" Psychopharmacology 187, 2006: 268–283 PMID 16826400
- Griffiths R, Richards W, Johnson M, McCann U, Jesse R. "Mystical-type experiences occasioned by psilocybin mediate the attribution of personal meaning and spiritual significance 14 months later" Journal of Psychopharmacology 22, 2008: 621–632 PMID 18593735
- Griffiths RR, Johnson MW, Richards WA, Richards BD, McCann U, Jesse R. "Psilocybin occasioned mystical-type experiences: immediate and persisting dose-related effects". Psychopharmacology 218, 2011: 649–665 PMID 21674151
- Frederick S. Barrett, Matthew W. Johnson, Roland R. Griffiths: Validation of the revised Mystical Experience Questionnaire in experimental sessions with psilocybin. In: Journal of Psychopharmacology (Oxford, England). Band 29, Nr. 11, November 2015, ISSN 1461-7285, S. 1182–1190, doi:10.1177/0269881115609019, PMID 26442957, PMC 5203697 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 11. Februar 2022]).
- Katherine A. Maclean, Jeannie-Marie S. Leoutsakos, Matthew W. Johnson, Roland R. Griffiths: Factor Analysis of the Mystical Experience Questionnaire: A Study of Experiences Occasioned by the Hallucinogen Psilocybin. In: Journal for the Scientific Study of Religion. Band 51, Nr. 4, Dezember 2012, ISSN 0021-8294, S. 721–737, doi:10.1111/j.1468-5906.2012.01685.x, PMID 23316089, PMC 3539773 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 11. Februar 2022]).
- Roland R. Griffiths, Matthew W. Johnson, William A. Richards, Brian D. Richards, Robert Jesse: Psilocybin-occasioned mystical-type experience in combination with meditation and other spiritual practices produces enduring positive changes in psychological functioning and in trait measures of prosocial attitudes and behaviors. In: Journal of Psychopharmacology (Oxford, England). Band 32, Nr. 1, Januar 2018, ISSN 1461-7285, S. 49–69, doi:10.1177/0269881117731279, PMID 29020861, PMC 5772431 (freier Volltext) – (nih.gov [abgerufen am 11. Februar 2022]).
- Carhart-Harris RL, Erritzoe D, Williams T, Stone JM, Reed LJ, Colasanti A, Tyacke RJ, Leech R, Malizia AL, Murphy K, Hobden P, Evans J, Feilding A, Wise RG, Nutt DJ. ‘’Neural correlates of the psychedelic state as determined by fMRI studies with psilocybin.’’ Proc Natl Acad Sci U S A. 2012, 109:2138-2143 PMID 22308440
- Pehr Granqvist, Mats Fredrikson, Patrik Unge, Andrea Hagenfeldt, Sven Valind, Dan Larhammar und Marcus Larsson: Sensed presence and mystical experiences are predicted by suggestibility, not by the application of transcranial weak complex magnetic fields. In: Neuroscience Letters 379, 2005: 1-6 PMID 15849873.
- Mario Beauregard, Vincent Paquette: Neural correlates of a mystical experience in Carmelite nuns. In: Neurosci Lett 405, 2006: 186-190 PMID 16872743.
- Detlef B. Linke: Religion als Risiko: Geist, Glaube und Gehirn. Reinbek bei Hamburg 2003, 319 S. ISBN 3-499-61488-X.
- Laurence O. McKinney: Neurotheology: Virtual Religion in the 21st Century. American Institute for Mindfulness, 1994, ISBN 0-945724-01-2.
- Miri Albahari: Analytical Buddhism: The Two-Tiered Illusion of Self. Palgrave-Macmillan, 2006 (philpapers.org [abgerufen am 11. Februar 2022]).
- Chris Letheby: Being for No-One. In: Philosophy and the Mind Sciences. Band 1, Nr. I, 2020, S. 1–26, doi:10.33735/phimisci.2020.i.47 (philpapers.org [abgerufen am 11. Februar 2022]).