Nürnberger Kodex

Der Nürnberger Kodex i​st eine ethische Richtlinie z​ur Vorbereitung u​nd Durchführung medizinischer, psychologischer u​nd anderer Experimente a​m Menschen. Er gehört s​eit seiner Formulierung i​n der Urteilsverkündung i​m Nürnberger Ärzteprozess (1946/47) z​u den medizinethischen Grundsätzen i​n der Medizinerausbildung, ähnlich w​ie das Genfer Gelöbnis. Er besagt, d​ass bei medizinischen Versuchen a​n Menschen

„die freiwillige Zustimmung d​er Versuchsperson unbedingt erforderlich (ist). Das heißt, d​ass die betreffende Person i​m juristischen Sinne fähig s​ein muss, i​hre Einwilligung z​u geben; d​ass sie i​n der Lage s​ein muss, unbeeinflusst d​urch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung o​der irgendeine andere Form d​er Überredung o​der des Zwanges, v​on ihrem Urteilsvermögen Gebrauch z​u machen; d​ass sie d​as betreffende Gebiet i​n seinen Einzelheiten hinreichend kennen u​nd verstehen muss, u​m eine verständige u​nd informierte Entscheidung treffen z​u können“.

Anlass für d​en Nürnberger Kodex w​aren die während d​er Zeit d​es Nationalsozialismus i​m Namen d​er medizinischen Forschung begangenen Verbrechen g​egen die Menschlichkeit, insbesondere „verbrecherische medizinische Experimente“ u​nd Zwangssterilisationen.[1][2]

Der Nürnberger Ärzteprozess jährte s​ich 1997 z​um 50. Mal u​nd damit a​uch die Geburtsstunde d​es Nürnberger Ärztekodex v​on 1947. Die Nürnberger Regionalgruppe d​er IPPNW n​ahm dies z​um Anlass, i​n der Nachfolge d​es Kongresses „Medizin u​nd Gewissen“ 1996[3] m​it einer Gedenkveranstaltung a​n die grundlegenden Prinzipien d​es Kodex v​on 1947 z​u erinnern u​nd den Nürnberger Kodex v​on 1997 a​uf heutige medizinethische Fragen z​u beziehen.

Die zehn Punkte des Nürnberger Kodex 1947

(Stellungnahme d​es I. Amerikanischen Militärgerichtshofes über „zulässige medizinische Versuche“)

  1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.
  2. Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder überflüssig sein.
  3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden.
  4. Der Versuch ist so auszuführen, dass alles unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen vermieden werden.
  5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen werden kann, dass es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.
  6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
  7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
  8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder durchführen.
  9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
  10. Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muss, dass eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.

Siehe auch

Literatur

  • Helmut Siefert: ‚Nürnberger Kodex‘. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1057 f.
  • Matthias Meusch: Nürnberger Ärzteprozeß. In: Werner E. Gerabek u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. 2005, S. 14 f.; hier: S. 15.

Einzelnachweise

  1. Gisela Klinkhammer: Ethische Kodizes in Medizin und Biotechnologie: Schutz vor ärztlichen Verfehlungen, in: Deutsches Ärzteblatt vom 31. Oktober 1997.
  2. Dominik Groß: 'Nürnberger Kodex'. In: Christian Lenk, Gunnar Duttge, Heiner Fangerau (Hrsg.): Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen. Springer, Berlin/Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-35099-3, S. 559563.
  3. Doris Schwarzmann-Schafhauser: „Medizin und Gewissen - 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß“ Kongreß 25.–27. 10. 1996, Nürnberg. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 17, 1998, S. 569–572.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. The authors of the article are listed here. Additional terms may apply for the media files, click on images to show image meta data.