Medizinskandal Alte Apotheke Bottrop
Der Medizinskandal Alte Apotheke Bottrop ist ein im Herbst 2016 in Bottrop aufgedeckter Skandal.[1] Zwei Angestellte hatten den Verdacht geäußert, in der Apotheke ihres Arbeitgebers seien Krebsmedikamente (Zytostatika) falsch deklariert bzw. mit zu wenig Wirkstoff verkauft worden. In einem der „größten Medizinskandale in der bundesdeutschen Geschichte“ soll der Apotheker Peter Stadtmann in 61.980 Fällen gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen haben. Bei der Alten Apotheke handelte es sich um eine „Schwerpunkt-Apotheke“, die behördliche Verantwortung in der Krebstherapie übernahm und dafür Medikamente bundesweit an Patienten abgab.
Im Juli 2018 wurde der Apotheker wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz und Betruges zu 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Whistleblowing
Der Volkswirt Martin Porwoll und die pharmazeutisch-technische Assistentin Maria-Elisabeth Klein entschieden sich, mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, da sie die Vernichtung wichtiger Beweismittel befürchteten und sie beim Zugehen auf ihren Arbeitgeber mit Repressalien hätten rechnen müssen, was von der ermittelnden Polizei bestätigt wurde. Porwoll erstattete Strafanzeige aufgrund des Verdachts, dass sein Arbeitgeber, der Inhaber der Alten Apotheke, „abgelaufene Medikamente, insbesondere Zytostatika, umdeklariert sowie Medikamente verdünnt/gestreckt und dennoch zum Preis des Originals verkauft habe.“[2] Maria-Elisabeth Klein informierte die Kriminalpolizei über Missstände in der Apotheke und übergab der Polizei zur weiteren Überprüfung ein zurückerhaltenes Medikament. Das Paul-Ehrlich-Institut bestätigte nach einer aufwändigen Prüfung, dass die Infusion statt des deklarierten Wirkstoffs eine „reine Kochsalzlösung“ enthalten habe.
Die beiden Angestellten der Alten Apotheke erhielten für ihr Whistleblowing zusammen mit einer dritten Person den Whistleblower-Preis der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Die Preisvergabe erfolgte aufgrund der Kriterien „Inkaufnahme schwerer Nachteile“ und „Orientierung am Gemeinwohl“. Ihr Whistleblowing sei ein „wichtiger Beitrag zur Aufdeckung von strukturellen Missständen in einem besonders kostenintensiven Bereich unseres Gesundheitswesens mit einem Jahresumsatz von ca. 4 Milliarden Euro, der sich auf ca. 50 Hersteller- und Vertriebsunternehmen, ca. 1200 Onkologen und ca. 250 Zytostatika-Apotheken verteilt.“[3]
Patientenverbände kritisieren die mangelnde Überwachung von Zytostatika herstellenden Apotheken, da unangemeldete Kontrollen höchst selten stattfänden.[4]
Folgen des Verdachts
Diese Erkenntnisse führten nach einer Durchsuchung der „Alten Apotheke“ am 29. November 2016 zum Haftbefehl gegen den approbierten Betriebsinhaber Peter Stadtmann. Die Apothekenmitarbeiterin Birgit K. sagte später aus, die Verwaltung der Apotheke habe mit dem Wachstum des Unternehmens nicht schritthalten können und sei überfordert gewesen. Es habe ein „Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen und dem verbuchten Warenbestand“ gegeben; eine erste Inventur sei chaotisch verlaufen und habe wiederholt werden müssen. Der Inhaber Stadtmann habe sich gegen seine Mutter, die als „Herrscherin des Kellers“ bekannt gewesen sei und den Warenein- und -ausgang kontrolliert habe, nicht immer durchsetzen können und „vermutlich die wirtschaftliche Situation der Apotheke gekannt“. Die Mitarbeiterin sprach weiterhin von hohen Rabatten und teuren Geschenken des Inhabers.[5] Einen weiteren Teil des noch verbliebenen Vermögens soll die Familie des Apothekers abgeschöpft haben.[6] Zudem sollen dem Recherchenetzwerk Correctiv Dokumente, Verträge und Vollmachten vorliegen, die den Eltern von Peter Stadtmann Zugriff auf weite Teile seines Vermögens ermöglichen. Die Staatsanwaltschaft konnte insgesamt 56 Millionen Euro sicherstellen, bei einem Jahresumsatz der Apotheke von zuletzt etwa 50 Millionen Euro. Dieses Geld dürfte, insbesondere für einen Opfer- und Täterausgleich, nicht ausreichen.
Im November 2017 begann vor einer auf Wirtschaftsdelikte spezialisierten Kammer der Prozess gegen den Apotheker. Bei den mutmaßlichen Opfern löste dies Kritik aus, zumal bereits einige Patienten gestorben seien. Sie wollten den Fall als Nebenkläger von einem Schwurgericht verhandeln und begründen dies damit, dass es um „Tötung von Menschen“ und das Überschreiten der „Schwelle zur Heimtücke“ gehe.[4] Es sollen 4600 Patienten in sechs Bundesländern geschädigt worden sein. Die Stadt Bottrop hat eine Beratungsstelle eingerichtet, die von zwei Onkologen mit einem Budget von 15.000 Euro ein Jahr lang für die Opfer des Apothekenskandals betrieben wird.[7]
Die Alte Apotheke wurde nach der Inhaftierung des Angeklagten von seiner Mutter geführt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Eltern des Angeklagten wegen ungenehmigten Arzneimittelgroßhandels und Beihilfe zu den Taten ihres Sohnes. Die Stadt Bottrop informierte im Mai 2018, dass die Überprüfung der Betriebserlaubnis der Mutter noch laufe.[8] Die Inhaberschaft der Alte Apotheke wechselte erneut. Sie wurde von der neuen Inhaberin in „City Apotheke“ umbenannt. Die Zytostatikaherstellung wurde nicht wieder aufgenommen.[9]
Am 6. Juli 2018 verurteilte das Landgericht Essen Peter Stadtmann wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in knapp 14.500 Fällen und Betrugs in 59 Fällen zu zwölf Jahren Haft. Außerdem wurde ein lebenslanges Berufsverbot verhängt.[10][11] Sowohl die Verteidigung, die Freispruch beantragt hatte, wie die Staatsanwaltschaft, die auch eine Verurteilung wegen versuchter Körperverletzung anstrebte, wie auch mehrere Nebenklägerinnen, die eine Verurteilung wegen versuchten Mordes anstrebten, legten Revision ein.[12] Erfolg hatte lediglich das Rechtsmittel des Angeklagten, allerdings auch nur insofern, als der Bundesgerichtshof die vom Landgericht auf 17 Millionen Euro festgesetzte Einziehung von Wertersatz auf 13,6 Millionen Euro herabsetzte.[13]
Ermittlungen wegen Insolvenzstraftaten
Ende Januar 2022 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Essen neue Ermittlungen gegen Peter Stadtmann aufgenommen hat wegen möglicher Insolvenzstraftaten. Aufgrund der Schadensersatzforderung der Krankenkassen in Millionenhöhe musste er Insolvenz anmelden. Dabei sollen Vermögenswerte auf die Mutter übertragen worden sein, um sie der Insolvenzmasse zu entziehen.[14] In Betracht kommt daher ein Bankrott nach § 283 StGB.
Literatur
- Dieter Deiseroth und Hartmut Graßl (Hrsg.): Whistleblower-Enthüllungen zu Krebsmittel-Panschereien und illegalen Waffengeschäften. Whistleblower-Preis 2017. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-8305-3786-1
- Eckart Roloff und Karin Henke-Wendt: Ein spendabler Apotheker und das Millionengeschäft mit gestreckten Krebsmitteln. In: dies.: Geschädigt statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale. Hirzel, Stuttgart 2018, S. 235–251, ISBN 978-3-7776-2763-2
Weblinks
- Niklas Schenck, Oliver Schröm, Willem Konrad: Der Krebsapotheker. Panorama – die Reporter (NDR, 2017, bei YouTube)
- Prozessprotokoll von correctiv.org
- Sophie Hafner, David Schraven: Abgezockt! Der Krebsmittel-Skandal. ZDFinfo, 24. August 2021
Einzelnachweise
- Alte Apotheke Bottrop: Drohungen gegen Demonstranten? sat1nrw.de, 8. Januar 2018
- Begründung der Gemeinsamen Jury von IALANA und VDW für die Verleihung des Whistleblower-Preises 2017 an Martin Porwoll und Maria-Elisabeth Klein (beide Bottrop) Website der IALANA Deutschland e.V. - Vereinigung für Friedensrecht - Deutsche Sektion der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms, 11. November 2017
- Whistleblower-Preisträger (vdw-ev.de)
- Medizinskandal Skrupellose Geschäfte mit gepanschten Krebsmedikamenten. Süddeutsche Zeitung, Online, 13. November 2017
- Alte Apotheke: „Verwaltung war überfordert“. Apotheke Adhoc (El Pato – Agentur für Kommunikation), 24. Januar 2018
- Apotheker-Skandal: Familie sicherte sich Teil des Vermögens. WAZ.de, 12. Oktober 2017
- Beratungsstelle zum Apotheker-Skandal eingerichtet. Website der Stadt Bottrop, abgerufen am 25. Februar 2018
- Hinnerk Feldwisch-Drentrup: Staatsanwalt ermittelt gegen Eltern von Zyto-Apotheker Peter S. In: DAZ.online. 8. Mai 2018 (deutsche-apotheker-zeitung.de).
- Schlussstrich: Alte Apotheke wird City-Apotheke. apotheke adhoc, 25. Juni 2018.
- LG Essen, Urteil vom 6. Juli 2018 - 56 KLs 11/17 - openJur. Abgerufen am 4. August 2019.
- Stefan Wette: Urteil: Bottroper Apotheker muss zwölf Jahre ins Gefängnis. 6. Juli 2018 (waz.de).
- Wolfram Zbikowski: Im Bottroper Apotheker-Skandal haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung Revision gegen das Urteil des Essener Landgerichts eingelegt. 10. Juli 2018 (wdr.de [abgerufen am 11. Juli 2018]).
- Beschluss des Bundesgerichtshofs 4 StR 503/19 vom 10. Juni 2020, juris.bundesgerichtshof.de; „BGH bestätigt Haftstrafe für Bottroper Zyto-Apotheker“, deutsche-apotheker-zeitung.de 2. Juli 2020
- Neue Ermittlungen gegen Bottroper Apotheker in www.wdr.de vom 28. Januar 2022, abgerufen am 29. Januar 2022