Mary (Gedankenexperiment)
Marys Zimmer ist ein philosophisches Gedankenexperiment, das Frank Cameron Jackson 1982 in seinem Artikel Epiphenomenal Qualia vorgestellt und 1986 in seiner Abhandlung What Mary Didn’t Know erweitert hat. Das Argument, das durch dieses Gedankenexperiment untermauert werden soll, wird häufig als das Wissensargument gegen den Physikalismus bezeichnet, also gegen die Ansicht, dass alles Existente, auch Geistiges, rein physisch ist.
Das Gedankenexperiment
Das Gedankenexperiment wurde von Frank Jackson ursprünglich wie folgt formuliert:
|
|
Mit anderen Worten, stellen wir uns eine Wissenschaftlerin vor, die alles weiß, was es in der Wissenschaft der Farbwahrnehmung zu wissen gibt, die aber nie Farbe erlebt hat. Die interessante Frage, die Jackson aufwirft, lautet: Lernt diese Wissenschaftlerin etwas Neues, wenn sie zum ersten Mal eine Farbwahrnehmung außerhalb ihres schwarzweißen Gefängnisses hat?
Folgerungen
Sollte Mary etwas Neues lernen, wenn sie ihre erste Farbwahrnehmung hat, so hat dies zwei wichtige Folgerungen: die Existenz von phänomenalen (geistig erlebten), qualitativen Eigenschaften, Aspekten oder Bewusstseinsgehalten, die man nur erleben kann, sogenannte Qualia. Da Qualia so eng mit geistigem Erleben zusammenhängen und nach Jackson gerade nicht auf physikalische Erklärungen reduzierbar sind (sonst würde Marys optische Spezialisierung ausreichen, um Farben „wirklich zu kennen“), wäre dies außerdem ein Argument für die Existenz von Mentalem (genauer für Wissen von mentalen Fakten) und damit gegen den Physikalismus (das manchmal sog. Wissensargument).
Qualia
Erstens existieren, falls Mary nach einem Farberlebnis etwas Neues lernt, Qualia (die subjektiven, qualitativen Eigenschaften von Erlebnissen). Wenn wir das Gedankenexperiment für gültig halten, so glauben wir, dass Mary etwas gewinnt – dass sie Wissen über eine bestimmte Entität erwirbt, das sie vorher nicht besaß. Dieses Wissen, so argumentiert Jackson, ist Wissen von den Qualia des Rotsehens. Deswegen müsste anerkannt werden, dass Qualia reale Eigenschaften sind, da es einen Unterschied zwischen einer Person gibt, die Zugang zu bestimmten Qualia hat, und einer, die nicht über diesen Zugang verfügt.
Das Wissensargument
Zweitens ist, falls Mary nach einem Farberlebnis etwas Neues lernt, der Physikalismus falsch. Insbesondere ist das Wissensargument ein Angriff auf die Behauptung der Physikalisten, dass eine physikalische Erklärung von mentalen Zuständen vollständig sei. Mary mag alles über die Farbwahrnehmung wissen, was die Wissenschaft darüber wissen kann, aber weiß sie, wie es ist, die Farbe Rot zu sehen, wenn sie nie diese Farbe gesehen hat? Jackson behauptet, dass sie durch Erleben etwas Neues lernt, und somit, dass der Physikalismus falsch ist.
|
|
Es ist aber wichtig zu bemerken, dass in Jacksons Artikel Physikalismus die erkenntnistheoretische Doktrin bezeichnet, nach der alles Wissen Wissen über physikalische Fakten ist, und nicht die metaphysische Doktrin, nach der alle Dinge physikalische Dinge sind.
Reaktionen
Frank Jackson
Frank Jackson selbst unterstützte anfangs die antiphysikalistischen Folgerungen des Gedankenexperiments von Marys Zimmer. Jackson glaubte an die vollständige Erklärungskraft der Physiologie, daran, dass all unser Verhalten von irgendwelchen physikalischen Kräften verursacht ist. Das Gedankenexperiment scheint dagegen die Existenz von Qualia, nicht-physikalischen geistigen Entitäten, zu zeigen. Wenn also, so argumentierte Jackson, dies beides wahr ist, so ist der Epiphänomenalismus wahr, das heißt, mentale Zustände werden durch physikalische Zustände verursacht, diese haben aber umgekehrt keinen kausalen Einfluss auf die physikalische Welt. (Lit.: Jackson 1982 & 1986)
Als er das Gedankenexperiment entwarf, war Jackson also Epiphänomenalist. Später lehnte er den Epiphänomenalismus dagegen ab. (Lit.: Jackson 2003) Dies liegt, wie er erörtert, daran, dass Mary „Wow“ sagt, wenn sie das erste Mal Rot sieht, weswegen es Marys Qualia sein müsse, die sie „Wow“ sagen lässt. Dies widerspricht dem Epiphänomenalismus. Da das Gedankenexperiment von Marys Zimmer diesen Widerspruch hervorruft, müsse etwas an ihm falsch sein. Dieser Standpunkt wird häufig als „‚there must be a reply‘ reply“ („‚es muss eine Erwiderung geben‘-Erwiderung“) bezeichnet.
Am Ende von Mind and Illusion (2003) schlägt Jackson vor, dass nur unter falschen Annahmen bezüglich Sinneswahrnehmungen folgt, dass Mary neues Wissen erwirbt. Mit der korrekten Theorie, nämlich einer repräsentationalistischen, folge dies nicht. Nur wenn Repräsentationalismus angenommen wird, kann außerdem die überzeugendste Reaktion auf das Beispiel entwickelt werden: die u. a. von Nemirow und D. Lewis vorgeschlagene, dass Mary eine neue Fähigkeit (ability) erwirbt. Damit lässt sich der Physikalismus aufrechterhalten.
Daniel Dennett
Der Philosoph Daniel Dennett bezeichnet das Gedankenexperiment von Mary als eine „intuition pump“, als ein Gedankenexperiment, das einfach zu verstehen und intuitiv eingänglich ist und uns dazu ermutigt, seine Voraussetzungen allzu leichtfertig misszuverstehen und einfach unserer Intuition zu verfallen, dass der Ausgang des Gedankenexperiments „offensichtlich“ der ist, dass Mary etwas Neues lernen wird bei ihrem ersten Farbexperiment. In seiner Monographie „Consciousness explained“ schreibt Dennett hierzu:
|
|
Wir dürfen also, so Dennett, von unserem heutigen Wissen und aus unserer Not bei der Schließung der Erklärungslücke nicht abschätzig auf das Wissen von Mary schließen. Wir können uns im Moment nicht vorstellen, wie ein solches Wissen aussieht, aber wenn wir Mary wirklich zubilligen, alles zu wissen, was verfügbar sein kann an physikalischen Wissen, so dürfen wir uns dabei jemanden, der absolut alles besitzt, was es gibt, nicht als jemanden vorstellen, der einfach „nur“ verdammt reich ist. Dennett tritt entschieden dagegen ein, dass es „offensichtlich“ sei, dass Mary bei ihrer ersten Farbwahrnehmung etwas Neues lernt; dies würde einem von der Art suggeriert, wie das Gedankenexperiment in der Regel präsentiert werde. Er schlägt dem Betrachter stattdessen vor, sich vorzustellen, wie Mary nach ihrer Freilassung eine gelbe und eine blaue Banane präsentiert wird, um sie damit zu testen, und dass sie diesen Test mit Bravour besteht. Dabei ist weniger wichtig, wie sie dies im Detail tut, sondern nur, dass sie es tut. Dieser alternative Ausgang des Experiments, so Dennett, würde zwar nicht beweisen, dass Mary nichts Neues lernt, aber dass der üblich nahegelegte Ausgang des Experiments nicht notwendig zeigen würde, dass sie etwas Neues lernen müsse. Für Dennett ist Jacksons Gedankenexperiment daher ein
|
|
Diese Position wurde von Dennett auch in „What RoboMary Knows“ (Lit.: Dennett 2003) dargestellt.
Die Debatte, die durch dieses Gedankenexperiment ausgelöst wurde, war zuletzt Inhalt einer Sammlung von Essays – There's Something About Mary (2004) – mit Erwiderungen führender Philosophen, wie Daniel Dennett, David Lewis, und Paul Churchland. Des Weiteren findet sich das Gedankenexperiment in dem Film Ex Machina wieder. Hier stellt Caleb das Gedankenexperiment dem Androiden Ava vor. Es wird damit indirekt in einen Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz gestellt und fügt eine weitere Komponente hinzu: Können Maschinen jemals Farben erleben, wenn ihnen nur alles gesammelte Wissen dazu einprogrammiert wird? Wird der Mensch einer K.I. immer überlegen sein, wenn dies nicht der Fall ist?
Literatur
- Daniel Dennett: Consciousness Explained, Little Brown and Co, Boston 1991, ISBN 0-316-18065-3.
- Daniel Dennett: What RoboMary Knows. In: Torin Alter (Hrsg.) Knowledge Argument, 2003. Online-Version
- Frank Cameron Jackson: Epiphenomenal Qualia. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127–136. Online-Version (Memento vom 31. Dezember 2007 im Internet Archive)
- Frank Cameron Jackson: What Mary Didn't Know. In: Journal of Philosophy 83, 1986, S. 291–295.
- Frank Cameron Jackson: Mind and Illusion, in Anthony O'Hear (Hrsg.): Minds and Persons, Cambridge University Press, S. 251–271, 2003. Online-Version von David Chalmers' consc.net (Memento vom 5. April 2005 im Internet Archive)
- Peter J. Ludlow, Yujin Nagasawa und Daniel Stoljar (Hrsg.): There’s something about Mary: essays on phenomenal consciousness and Frank Jackson’s knowledge argument, MIT Press, Cambridge (Massachusetts) 2004, ISBN 0-262-62189-4 (paperback), ISBN 0-262-12272-3 (hardcover).
- Daniel Stoljar: Physicalism and the Necessary a Posteriori In: The Journal of Philosophy, Issue 1, Year 2000, S. 33–54. doi:10.2307/2678473
Weblinks
- Martine Nida-Rümelin: Qualia: The Knowledge Argument. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Torin Alter: The Knowledge Argument Against Physicalism. In: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- David Chalmers: The Knowledge Argument, Bibliographie, in: MindPapers