Lygisögur
Bei den lygisögur (wörtlich: Lügensagas; Einzahl lygisaga) handelt es sich um etwa 30 Erzählungen, die ungefähr zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert in altisländischer Sprache verfasst wurden.[1]
Im Gegensatz zu den Isländersagas, die häufig auf historischen Ereignissen beruhen, ist das Geschehen in den lygisögur ausschließlich fiktiver Natur.[2] Die Geschichten zeichnen sich in der Regel durch phantastische Elemente, wie allerhand Fabelwesen oder magische Objekte, starke Einflüsse aus anderen Erzählwelten und Epochen sowie die Verwendung nicht-nordischer Namen aus, z. B. Agamenon, Eneas oder Menilaus. Im Allgemeinen sind sie in einer ritterlichen Szenerie nach kontinentaleuropäischem Vorbild sowie an exotischen Orten angesiedelt.[3] Nicht selten sind dementsprechend auch Handlungsabläufe und Erzählelemente der kontinentaleuropäischen Literatur entnommen. Beispielsweise bezeichnet sich der Protagonist Remund in der Rémundar sage keisarasonar zeitweilig als einn kranki kerrumaðr – „ein kranker Karrenmann“ – offenbar eine Anspielung auf Chrétien du Troyes’ Le Chevalier de la Charrette.[4] In derselben Saga taucht außerdem der sagenumwobene Priesterkönig Johannes auf.[5]
Besonders bezeichnend ist der Hang der lygisögur zu repetitiven, schematischen Erzählmustern und Formulierungen, die sowohl innerhalb der Sagas als auch sagaübergreifend oft wortgetreu wiederholt werden, sowie einer gewissen Standardisierung der Kampfszenen. Bei diesen sind die repetitiven Formulierungen jedoch oft nur sinn- nicht jedoch wortgleich. Insgesamt scheinen nach einer Art Baukastenprinzip die einzelnen Formulierungen immer wieder zu neuen Sagas zusammengesetzt worden zu sein. Typisch sind außerdem völlig übertriebene, oft unrealistische Gewaltdarstellungen und abstruseste Verletzungsmuster:[6]
Einigen wurden die Arme oder die Beine abgehauen, andere in der Mitte durchgetrennt, einer wurde erschossen, ein anderer erstochen. Hier wurde einer versehrt, während ein anderer eingeschläfert wurde; einer zappelte, während ein anderer ganz tot war.[7]
Er schwingt den Teil [der Lanze], den er hat, empor und treibt ihn auf den Helm des Berserkers, daß ihm beide Augen herausfliegen und er vom Pferd fällt und sich den Hals bricht.[8]
Er schlägt nach dem einen [Berserker] mit der Axt, und sie traf in den Kopf, aber aufgrund eines Zaubers biß sie nicht. Dennoch brach der Schädel in kleine Stücke, so daß das Gehirn durch den Mund herausfiel.[8]
In der Literaturwissenschaft wurden die lygisögur lange Zeit sehr stiefmütterlich behandelt, weshalb es bislang nur relativ wenige Publikationen darüber gibt. Der renommierte Philologe Finnur Jónsson warf den Verfassern einen Mangel an Erfindungsreichtum vor, der in einer „fantasielosen Anhäufung der immer gleichen Motive“ gemündet war.[9] Von den – seiner Meinung nach – eintönigen Schlachtendarstellungen war er sogar so wenig angetan, dass er empfahl, sie beim Lesen einfach zu überspringen.[9] Andere Literaturwissenschaftler gehen mit den lygisögur zwar nicht ganz so hart ins Gericht, wirklich mit ihnen auseinandergesetzt haben sich jedoch nur wenige. Infolgedessen existiert im Deutschen nicht einmal eine allseits anerkannte Bezeichnung für diese Sagagattung. Bei lygisögur handelt es sich um den in mittelalterlichen Handschriften verbreiteten Begriff.[10] Als moderne Gattungsbezeichnung die direkte Übersetzung „Lügensagas“ zu gebrauchen, lehnen zahlreiche Philologen jedoch als zu pejorativ und unpräzise ab. Selbiges gilt für den Quellenbegriff selbst.[11]
Als eine Art Kompromissübersetzung entstand der Begriff „Märchensagas“. Dieser ist jedoch ebenfalls sehr umstritten, da er eine Verwandtschaft mit den heute verbreiteteren mitteleuropäischen Volksmärchen zu implizieren scheint, mit denen die Sagas allerdings kaum etwas gemein hätten.[11] Als einer von wenigen befürwortete der einflussreiche isländische Literaturprofessor Einar Ólafur Sveinsson den altnordischen Begriff lygisögur, da dieser gerade bei denjenigen weniger irreführende Vorstellungen wecke, die des Isländischen nicht mächtig seien.[12]
Da die Handlung in aller Regel in einer ritterlichen Gesellschaft spielt, wird die Gattung gemeinhin auch als „originale riddarasögur“ bezeichnet. Der Zusatz „originale“ dient dabei der Unterscheidung von den „(übersetzten) riddarasögur“, bei denen es sich nur um Bearbeitungen bzw. Übersetzungen kontinentaleuropäischer höfischer Literatur handelt,[13] nicht um nordische Originale. Bisweilen unterscheidet die Fachliteratur auch nur zwischen riddarasögur und lygisögur und geht den Umweg über originale und übersetzte erst gar nicht. Ebenso kommt es vor, dass beide Gattungen unter dem Begriff „romantische Sagas“ zu einer zusammengefasst werden.[14] Der niederländische Philologe Jan de Vries komplettiert dieses Begriffsfindungschaos, indem er „originale“ und „übersetzte riddarasögur“ unter dem Terminus riddarasögur bündelt und diese dann gemeinsam mit den fornaldarsögur, die vor der Besiedlung Islands in Skandinavien spielen, unter lygisögur zusammenfasst.[4]
Quellenausgaben
- Jürg Glauser, Gert Kreutzer (Hrsg.): Isländische Märchensagas. Band 1 (Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur. Helden, Ritter, Abenteuer), München 1998.
Literatur
- Geraldine Barnes: Rémundar saga keisarasonar: Romance, Epic, and the Legend of Prester John (= The Journal of English and Germanic Philology 111/2). 2012, S. 208 – 223.
- Klaus Böldl: Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch. München 2013.
- Matthew Driscoll: Late Prose Fiction (lygisögur). In: Rory McTurk (Hrsg.): A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Malden, MA, USA/ Oxford, UK/ Carlton, Victoria, Australia 2005.
- Jürg Glauser: Spätmittelalterliche Vorleseliteratur und frühneuzeitliche Handschriftentradition. Die Veränderung der Medialität und Textualität der isländischen Märchensagas zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert. In: Hildegard L. C. Tristram (Hrsg.): Text und Zeittiefe (= ScriptOralia 58). Tübingen 1994.
- Arthur Emil Haase: Narrative techniques in scenes of combat in the icelandic Family Sagas. New Haven, CT, 1970.
- Marianne Elfriede Kalinke, Phillip Marshall Mitchell (Hrsg.): Bibliography of Old Norse-Icelandic Romances, in: Islandica 44, 1985.
- Mathias Kruse: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas (= Münchner Nordistische Studien 30). München 2017.
- Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern (= Beiträge zur Nordischen Philologie 52). Tübingen 2013.
- Heiko Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur. 2. Auflage. Stuttgart 2017.
- Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte II (= Grundriss der germanischen Philologie 15/16). 3. Auflage. Berlin/New York 1999.
- Sixt Wetzler: Combat in Saga Literature. Traces of martial arts in medieval Iceland. Tübingen 2017.
Einzelnachweise
- Heiko Uecker: Geschichte der altnordischen Literatur. 2. Auflage. Stuttgart 2017, S. 186.
- Mathias Kruse: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas (= Münchner Nordistische Studien 30). München 2017, S. 120 f.
- Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern (= Beiträge zur Nordischen Philologie 52). Tübingen 2013, S. 41 f.
- Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte II (= Grundriss der germanischen Philologie 15/16). 3. Auflage. Berlin/New York 1999, S. 537 ff.
- Geraldine Barnes: Rémundar saga keisarasonar: Romance, Epic, and the Legend of Prester John (= The Journal of English and Germanic Philology 111/2). 2012, S. 208 – 223.
- Mathias Kruse: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas (= Münchner Nordistische Studien 30). München 2017, S. 176, 215 - 234.
- Die Saga von Remund dem Kaisersohn. In: Jürg Glauser, Gert Kreutzer (Hrsg.): Isländische Märchensagas (= Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur. Helden, Ritter, Abenteuer). Band 1. München 1998, S. 141 f.
- Die Saga von König Flores und seinen Söhnen. In: Jürg Glauser, Gert Kreutzer (Hrsg.): Isländische Märchensagas (= Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur. Helden, Ritter, Abenteuer.). Band 1. München 1998, S. 78–102.
- Kruse, Mathias: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas (= Münchner Nordistische Studien 30). München 2017, S. 168.
- Matthew Driscoll: Late Prose Fiction (lygisögur). In: Rory McTurk (Hrsg.): A Companion to Old Norse-Icelandic Literature and Culture. Malden, MA, USA/ Oxford, UK/ Carlton, Victoria, Australia 2005, S. 190.
- Jürg Glauser: Spätmittelalterliche Vorleseliteratur und frühneuzeitliche Handschriftentradition. Die Veränderung der Medialität und Textualität der isländischen Märchensagas zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert. In: Hildegard L. C. Tristram (Hrsg.): Text und Zeittiefe (= ScriptOralia 58). Tübingen 1994, S. 381.
- Mathias Kruse: Literatur als Spektakel. Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas (= Münchner Nordistische Studien 30). München 2017, S. 114 f.
- Hendrik Lambertus: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern (= Beiträge zur Nordischen Philologie 52). Tübingen 2013, S. 41–45.
- Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte II (= Grundriss der germanischen Philologie 15/16). 3. Auflage. Berlin/New York 1999, S. 314.