Kydonia
Kydonia oder Kydonien (mykenisch đđđđ ku-do-ni-ja / KudĆniÄ;[1] altĂ€gyptisch Kutunaja, lateinisch Cydonia) war eine wichtige minoische Siedlung und spĂ€ter ein altgriechischer Stadtstaat (Polis) am nordwestlichen Ufer der Insel Kreta, auf dem Boden der heutigen griechische Stadt Chania. Zumindest in der klassischen Antike war es laut Strabon nĂ€chst Knossos und Gortyn die mĂ€chtigste Stadt Kretas.[2]

Laut kretischer Sage war Minos oder König Kydon, Sohn des Hermes und der Minos-Tochter Akakallis, GrĂŒnder der Stadt.[3] Nach arkadischer Auffassung grĂŒndeten hingegen Leute aus Tegea Kydonia, denn Kydon sei ein Sohn des Tegeates gewesen.[4] Bereits Homer gibt an, die Kydonen seien eines der fĂŒnf alten Völker Kretas gewesen und hĂ€tten beidseits des Flusses Iardanos gesiedelt.[5] Die Kydonen werden auch einmal im 12. Buch der Aeneis von Vergil als gute BogenschĂŒtzen erwĂ€hnt.
Fassbarer wird die Geschichte Kydonias erst fĂŒr die zweite HĂ€lfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Nach einer gescheiterten Rebellion gegen Polykrates geflohene Samier grĂŒndeten die Stadt um 520 v. Chr. neu.[6] FĂŒnf Jahre spĂ€ter aber wurden die samischen Kolonisten von den vereinigten Aigineten und Kretern in einer Seeschlacht geschlagen und versklavt; die Aigineten selbst besiedelten nun Kydonia.[7] Seitdem war die Stadt dorisch geprĂ€gt. WĂ€hrend des Peloponnesischen Kriegs verheerten 429 v. Chr. Athener, die auf Betreiben der Einwohner von Kydonias Nachbarort Polichna mit 20 Schiffen nach Kreta gesegelt waren, das Gebiet Kydonias.[8] Um 342 v. Chr. wurde die Stadt vom Phoker Phalaikos belagert, der hier seinen Tod fand.[9]
In hellenistischer Zeit war Kydonia zu Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. mit Aptera alliiert.[10] Um 219 v. Chr. gehörte Kydonia zum mit den Aitolern verbĂŒndeten knossischen Bund; es wurde von den durch makedonische und achaiische Hilfstruppen unterstĂŒtzten Polyrrheniern belagert und trat gezwungen vom knossischen zum polyrrhenischen Bund ĂŒber.[11] DreiĂig Jahre spĂ€ter fĂŒhrte Kydonia Krieg gegen Gortyn und Knossos.[12] 184 v. Chr. wurden die Kydoniaten durch den römischen Gesandten Appius Claudius Pulcher veranlasst, das Gebiet von Phalasarna aufzugeben, wo sie sich festgesetzt hatten.[13] 171/70 v. Chr. hĂ€tten sie ihre Stadt fast an die Gortynier verloren, gegen die sie sich aber durch die Hilfe der Truppen des pergamenischen Königs Eumenes II. behaupten konnten.[14] Der Gefahr kaum entronnen, begingen sie einen Vertragsbruch, indem sie Apollonia ĂŒberfielen, die dortigen MĂ€nner töteten und deren Habe unter sich verteilten.[15]
Im Rahmen des dritten Krieges, den die Römer gegen König Mithridates VI. von Pontos fĂŒhrten, kĂ€mpfte Marcus Antonius Creticus, der Vater des Triumvirn Marcus Antonius, 72/71 v. Chr. wenig glĂŒcklich gegen die Kreter, darunter wohl auch gegen Einheiten aus Kydonia.[16] 69 v. Chr. gewann Quintus Caecilius Metellus Creticus gegen die Kreter unter ihrem Feldherrn Lasthenes eine Schlacht bei Kydonia, woraufhin Lasthenes nach Knossos floh; Kydonia ergab sich Metellus.[17] Octavian, der spĂ€tere Kaiser Augustus, erklĂ€rte die Stadt 30 v. Chr. fĂŒr autonom, weil sie ihn gegen seinen Kontrahenten Marcus Antonius unterstĂŒtzt hatte.[18] In der SpĂ€tantike war Kydonia ein christlicher Bischofssitz.
Die exakte Lage von Kydonia wurde zunĂ€chst nur aufgrund der historischen Quellen von Robert Pashley festgestellt,[19] da Ausgrabungen Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht möglich waren.[20] Diese wurden systematisch erst ab den spĂ€ten 1960ern durchgefĂŒhrt, groĂe Teile des vorgeschichtlichen und antiken Kydonias sind allerdings durch die Errichtung von Befestigungen wĂ€hrend der Araber- und TĂŒrkenherrschaft weithin verbaut. Ăstlich des alten Hafens von Chania wurden einige minoische GebĂ€ude freigelegt und u. a. auch Linear-B-Dokumente entdeckt. Aus hellenistischer und römischer Zeit gibt es nur geringe Ăberreste. Es wurden auch zahlreiche von der Stadt geprĂ€gte MĂŒnzen entdeckt, die aus dem Zeitraum vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum Beginn des 3. Jahrhunderts n. Chr. stammen. ArchĂ€ologische Funde aus Kydonia, die bis ins Neolithikum zurĂŒckreichen, werden im archĂ€ologischen Museum der Stadt Chania bewahrt. Der wohl berĂŒhmteste Sohn der Stadt war der Bildhauer Kresilas.
Literatur
- Robert Pashley: Travels in Crete. J. Murray, 1837.
- Ludwig BĂŒrchner: Kydonia 1. In: Paulys RealencyclopĂ€die der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XI,2, Stuttgart 1922, Sp. 2306 f.
- Stefan Hiller: Das minoische Kreta nach den Ausgrabungen des letzten Jahrzehnts (= Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse. Band 330). Verlag der Ăsterreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1977, ISBN 978-3-7001-0176-5, Chania/Kydonia, S. 146â157.
- Holger Sonnabend: Kydonia. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 6, Metzler, Stuttgart 1999, ISBN 3-476-01476-2, Sp. 959.
- C. Michael Hogan: Cydonia. In: Modern Antiquarian. 23. Januar 2008 themodernantiquarian.com
- Maria Andreadaki-Vlazaki: Khania (Kydonia). In: Eric H. Cline (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Bronze Age Aegean. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-987360-9, S. 518â528 (englisch, Leseprobe in der Google-Buchsuche).
Weblinks
- Ian Swindale: Chania / Kydonia. Minoan Crete, 12. Juli 2015, abgerufen am 14. Juli 2018 (englisch).
Einzelnachweise
- Fritz Gschnitzer: FrĂŒhes Griechentum: Historische und sprachwissenschaftliche BeitrĂ€ge. In: Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum. Band 1. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-515-07805-3, S. 142/143 (books.google.de).
- Strabon: Geographika. 10, 4, 7, S. 476.
- Diodor: Bibliothéke historiké 5, 78, 2; Parische Chronik 21 f.; Pausanias: Beschreibung Griechenlands. 8, 53, 4.
- Pausanias, Beschreibung Griechenlands 8, 53, 4.
- Homer: Odyssee. 3, 292 und 19, 176.
- Herodot, Historien 3, 44 und 3, 59.
- Strabon: Geographika. 8, 6, 16, S. 376.
- Thukydides: Peloponnesischer Krieg. 2, 85, 5 f.
- Diodor: Bibliothéke historiké. 16, 63, 2 ff.; Pausanias: Beschreibung Griechenlands. 10, 2, 7.
- Angelos Chaniotis: Die VertrÀge zwischen kretischen Poleis in der hellenistischen Zeit. 1996, Nr. 2.
- Polybios: HistorĂai. 4, 55, 4.
- Titus Livius: Ab urbe condita. 37, 60.
- Polybios: HistorĂai. 22, 19.
- Polybios: HistorĂai. 28, 15.
- Polybios: HistorĂai. 28, 14; Diodor: BibliothĂ©ke historikĂ©. 30, 13.
- Florus: Epitoma de Tito Livio. 2, 42; Appian: Sikelike. 6, 1.
- Appian: Sikelike. 6, 2; Velleius Paterculus: Historia Romana. 2, 34, 1; Livius: periochae. 98; Florus: Epitoma de Tito Livio. 2, 42; u. a.
- Cassius Dio: Römische Geschichte. 51, 2, 3.
- Pashley, 1837
- Hogan, 2008