Kontrafaktur
Als Kontrafaktur (zu lateinisch contra ‚gegen‘ und facere ‚machen‘, Gegenentwurf) wird ein künstlerisches Produktionsverfahren sowie dessen Ergebnis bezeichnet, bei dem aus einem Kunstwerk unter Beibehaltung bestimmter Formbestandteile ein neues Kunstwerk gemacht wird. Kontrafaktur ist damit ein Beispiel für Intertextualität bzw. Intermedialität.
Musik
Als Kontrafaktur wird in der Musiktheorie sowohl der Vorgang als auch das Ergebnis eines bestimmten Verfahrens zur Erschaffung eines neuen musikalischen Gesangsstücks bezeichnet. Dabei wird lediglich der Gesangstext eines bereits bestehenden Werks verändert, sodass ein neues Lied mit der gleichen Melodie oder gleichen Motiven entsteht. Dieses Verfahren wurde besonders häufig im Kirchenlied angewandt, weil bei der Verdeutschung der im Gottesdienst verwendeten Lieder die bereits bekannte Melodie oder Teile davon erhalten, der lateinische Text aber ersetzt werden sollte. Auch viele Stücke des gregorianischen Repertoires dienten als Ausgangsmaterial für die entsprechenden deutschsprachigen Kontrafakturen.[1]
Siehe auch Tabelle in der Liste deutschsprachiger Weihnachtslieder.
Die Methode der Kontrafaktur findet aber nicht nur bei einfachen Liedmelodien, sondern auch bei mehrstimmigen und komplexeren Chorwerken Anwendung. Bekannte Beispiele dafür finden sich bei Johann Sebastian Bach. So ist etwa der Eingangschor Jauchzet, frohlocket seines Weihnachtsoratoriums eine Kontrafaktur des Eingangschors der Kantate Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!.
Da die Definition des parallelen englischsprachigen Begriffs (contrafact) etwas weiter gefasst ist, spricht man in der modernen Musiktheorie häufig auch von Kontrafaktur, wenn eine neue Melodie unter Beibehaltung des Harmonieschemas komponiert wird. Diese Praxis findet sich vor allem im modernen Jazz.
Literatur
In Anlehnung an den musiktheoretischen Begriff versteht man in der Literaturwissenschaft unter Kontrafaktur ein neu gefertigtes literarisches Werk, das von einem früheren Werk wesentliche Bestandteile der Form übernimmt. Ein Beispiel dafür ist Leonard Bernsteins Musical West Side Story, das eine Kontrafaktur von William Shakespeares Tragödie Romeo und Julia darstellt.
Thomas Bernhards Ein Fest für Boris und andere seiner Theaterstücke können als negative Kontrafaktur von Hugo von Hofmannsthals Stück Jedermann (UA 1911) gelesen werden.[2]
Kontrafaktur – Parodie
Zu Zeiten des Barocks und der Wiener Klassik (17./18. Jahrhundert) wurde die Umgestaltung musikalischer Werke für andere Zwecke 'global' als Parodie (siehe dort) bezeichnet.
In der heutigen Literaturwissenschaft umschreibt Parodie die verzerrende, übertreibende und/oder verspottende Nachahmung eines Werkes; von Kontrafaktur spricht man (auch dann), wenn mit der Kopie keine solche Wertung verknüpft ist.
Die Musikwissenschaft unterscheidet die beiden Begriffe auf andere Weise: Als Kontrafaktur wird die textliche Neubearbeitung eines weltlichen Liedes mit einem geistlichen Text bezeichnet (beispielsweise Heinrich Isaac: Innsbruck, ich muss dich lassen; die erste von zwei Kontrafakturen im Evangelischen Gesangbuch findet sich unter EG 521 O Welt, ich muss dich lassen). Parodie hingegen beschreibt den umgekehrten Weg, nämlich die Unterlegung geistlichen Liedguts mit einem weltlichen Text.
Weblinks
Einzelnachweise
- Markus Bautsch: Über Kontrafakturen gregorianischen Repertoires, abgerufen am 3. Dezember 2014.
- Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Metzler, Stuttgart/Weimar 1995, S. 141.