Kollisionsregel
Eine Kollisionsregel dient in der Rechtswissenschaft der Auflösung einer Normenkollision: Wenn auf einen Sachverhalt verschiedene Rechtsnormen anwendbar sind, entscheidet die Kollisionsregel, welche der Rechtsnormen vorrangig ist und damit andere Rechtsnormen verdrängt.[1]
Kollisionsregeln knüpfen dabei an bestimmte Eigenschaften der kollidierenden Rechtsnormen an. Welche Kollisionsregel anwendbar ist, kann durch eine sogenannte Kollisionsnorm festgelegt sein. Anderenfalls ist eine allgemeine Kollisionsregel durch Auslegung der kollidierenden Rechtsnormen zu ermitteln.
Ein Sonderfall der Kollisionsnorm, der ein Verhältnis mehrerer Rechtsnormen besonders regelt, ist die Relationsnorm.
Allgemeine Kollisionsregeln
Lex-specialis-Grundsatz und Subsidiaritätsgrundsatz
Lex specialis derogat legi generali: Das speziellere Gesetz verdrängt das allgemeine. Danach geht die genauere Rechtsnorm der generellen vor.
- Beispiel einer Kollisionsnorm nach dem Lex-specialis-Grundsatz ist § 8 Abs. 1 StVO: „An Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts kommt. Das gilt nicht, wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist […].“
Mit dem Lex-specialis-Grundsatz ist der Subsidiaritätsgrundsatz verwandt. Danach findet die subsidiäre Rechtsnorm nur Anwendung, sofern ein Sachverhalt nicht durch eine andere Rechtsnorm geregelt ist.
Sollte ein älteres Sondergesetz und ein jüngeres allgemeines Gesetz zusammentreffen, so geht das ältere Sondergesetz vor. „Lex posterior generalis non derogat legi priori speciali“: Ein späteres generelles Gesetz hebt ein früheres Sondergesetz nicht auf.[2]
Lex-posterior-Grundsatz
Lex posterior derogat legi priori: Das spätere Gesetz verdrängt das frühere. Also geht die neuere Norm der älteren vor.
- Beispiel einer Kollisionsnorm nach dem Lex-posterior-Grundsatz ist Art. 72 Abs. 3 Satz 3 GG n.F.: „Auf den Gebieten des Satzes 1 [Abweichungsbefugnis der Länder] geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.“
Lex-superior-Grundsatz
Lex superior derogat legi inferiori: Das höherrangige Gesetz verdrängt das niederrangige. Also geht die Norm auf der höheren Stufe der Normenhierarchie der nachrangigen vor.
- Ein Beispiel für eine Kollisionsnorm nach dem Lex-superior-Grundsatz ist der Satz „Bundesrecht bricht Landesrecht“, wie er in der Bundesrepublik durch Art. 31 GG festgeschrieben ist. Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass wegen dieser Kollisionsregel die Art. 21 und 109 der Landesverfassung Hessens, welche bis 2019 die Verhängung der Todesstrafe erlaubten, nicht angewendet wurde.[3] Richtig ist, dass es sich beim Strafrecht um ein Element der konkurrierenden Gesetzgebung handelt Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und der Bund bereits das StGB erlassen hat, damit ist die Hessische Landesverfassung nicht befugt eine Regelung auf diesem Gebiet zu treffen.
Besondere Kollisionsregeln
Tarifvertragsrecht
Sind Arbeitnehmer eines Betriebs gleichzeitig an kollidierende Tarifverträge gebunden, spricht man von Tarifkonkurrenz.[4] Nach der politisch umstrittenen Neuregelung in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG kann dann gerichtlich festgestellt werden, dass nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gilt, die in diesem Betrieb die meisten Mitglieder hat.[5]
Kollision von Grundrechten
Die Kollision von Grundrechten wird im Wege der praktischen Konkordanz gelöst.
Internationale Kollisionsregeln
Der Fall der Kollision von Rechtsnormen verschiedener Staaten auf dem Gebiet des Privatrechts wird durch das internationale Privatrecht erfasst, das auch Kollisionsrecht genannt wird.
Die Kollision von Normen des Steuerrechts verschiedener Staaten wird von Doppelbesteuerungsabkommen erfasst.
Bei der Kollision von Vorschriften des Zivilprozessrechts verschiedener Staaten greift das internationale Zivilverfahrensrecht.
Europäisches Unionsrecht
Bei Kollision von Unionsrecht und nationalem Recht der Mitgliedsstaaten gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts.
Literatur
- Kai Engelbrecht: Die Kollisionsregel im föderalen Ordnungsverbund. Mohr Siebeck 2010. ISBN 978-3-16-150311-5 (zu Art. 31 GG)
- Lars Viellechner: Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel. Zu den innerstaatlichen Wirkungen von völkerrechtlichen Verträgen und Entscheidungen internationaler Gerichte, insbesondere bei der Auslegung und Anwendung von Grundrechten, in: Nele Matz-Lück, Mathias Hong (Hg.): Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem – Konkurrenzen und Interferenzen, Springer-Verlag 2012, S. 109–159. ISBN 978-3-642-24680-7
Weblinks
- Rainer Hofmann: Verfassungsrecht I, § 15 Bundesstaat 2012 (zur Situation in Deutschland)
- Burkhard Schöbener: Das Verhältnis des EU-Rechts zum nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland JA 2011, S. 885
- Carsten Kern: Das anwendbare Recht der Schiedsvereinbarung in der internationalen Handels- und Investitionsschiedsgerichtsbarkeit Heidelberg, 2012
- Christine Kaufmann: Staatsrecht II. Vorrang des Bundesrechts; Aufsicht 2010 (zur Situation in der Schweiz)
Einzelnachweise
- Röhl, Klaus F./Röhl, Hans Christian: Allgemeine Rechtslehre. Ein Lehrbuch. 3. Auflage. Carl Heymanns, Köln 2008, ISBN 978-3-452-26001-7, S. 154, 156.
- Liebs, Detlev: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. 4. Auflage. Beck, München 1982, ISBN 3-406-08702-7, S. L. 44.
- Hessen schafft erst jetzt die Todesstrafe ab. 25. März 2019, abgerufen am 18. Oktober 2020 (deutsch).
- Thomas Dieterich: Tarifeinheit Hans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht, 8./9. März 2007
- BVerfG, Pressemitteilung Nr. 73/2015: Anträge auf einstweilige Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz erfolglos vom 9. Oktober 2015.