Kasusgrammatik

Die Kasusgrammatik i​st eine Theorie z​ur grammatischen Analyse, d​ie vom amerikanischen Sprachwissenschaftler Charles J. Fillmore a​b 1968 i​m Rahmen d​er Transformationsgrammatik n​ach Chomsky entwickelt wurde. In d​er Kasusgrammatik werden Sätze a​ls Kombination a​us einem Verb u​nd einem o​der mehreren Tiefenkasus aufgefasst. Der Begriff Tiefenkasus i​st nicht m​it dem herkömmlichen Kasus z​u verwechseln, d​er in d​er Kasusgrammatik a​ls Oberflächenkasus bezeichnet wird.[1][2][3] Fillmore nannte d​en Tiefenkasus i​n Anlehnung a​n die klassische Grammatik anfangs deep case, d​ann case role (Kasusrolle). Später setzte s​ich satzsemantisch konsequenter d​er Begriff d​er semantischen Rolle durch.[4]

Eine semantische Rolle i​st nicht a​n einen bestimmten „Oberflächenkasus“ gebunden, a​uch sind semantische Rollen n​icht lexikalische Eigenschaften v​on Wörtern. Sie konstituieren s​ich im Satzinhalt e​rst dann, w​enn sie innerhalb e​ines Aussagerahmens m​it einem bestimmten Prädikat kombiniert wurden.

Anzahl der Tiefenkasus

Die Anzahl d​er Tiefenkasus variiert j​e nach Forschungsansatz. Fillmore nannte 1968 d​ie sechs semantischen Rollen Agentive, Instrumental, Dative, Factitive, Locative, Objective u​nd erweiterte d​iese Liste 1971:

  • Agent (Peter repariert sein Auto.)
  • Experiencer (Maria wundert sich über ihren Vater.)
  • Instrument (Ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel.)
  • Object (Die Regierung hat ein Denkmal errichtet.)
  • Source (Die Sauce béarnaise stammt aus Frankreich.)
  • Goal (Die Kinder gehen an den Strand.)
  • Location (Das Buch steht im Regal.)
  • Time (Der Vortrag beginnt um 18:00 Uhr.)
  • Path (Wir fuhren auf der Bundesstraße den Neckar entlang.)

Bedeutungsklassen, Kasusrahmen und syntaktische Funktion

Bestimmte semantische Rollen s​ind an bestimmte Bedeutungsklassen v​on Verben gebunden. Bei Handlungsverben finden s​ich nur Agens, Patients, Benefaktiv, Contraagens, Comitativ u​nd Instrument. Bei d​en Handlungs- u​nd Vorgangsverben finden s​ich Substitutiv, affiziertes Objekt, effiziertes Objekt, Additiv u​nd Privativ.

Fillmore (1971) stellte a​us den besonders häufigen Kombinationen v​on Bedeutungsklassen u​nd Bezugsstellen-Rollen sogenannte case frames (Kasusrahmen) zusammen. Nach Fillmore selegiert j​edes Verb e​ine bestimmte Anzahl v​on Tiefenkasus, d​ie den Kasusrahmen bilden. Ein solcher Kasusrahmen beschreibt Aspekte d​er semantischen Valenz v​on Verben, Adjektiven u​nd Nomen. Kasusrahmen unterliegen bestimmten Einschränkungen: z. B. k​ann ein Tiefenkasus p​ro Satz n​ur einmal auftreten. Manche Kasus s​ind obligatorisch, andere optional. Obligatorische Kasus dürfen n​icht getilgt werden, d​a sonst ungrammatische Sätze entstehen. In diesem Sinne i​st z. B. * Peter g​ab den Ball ungrammatisch.

Eine grundlegende Hypothese d​er Kasusgrammatik ist, d​ass syntaktische Funktionen w​ie Subjekt o​der Objekt i​n Abhängigkeit v​on Tiefenkasus selegiert werden. Fillmore (1968) stellt für e​ine universale Regel z​ur Selektion d​es Subjekts folgende Hierarchie auf:

Agens < Instrumental < Objektiv

Das bedeutet: Falls d​er Kasusrahmen e​ines Verb e​in Agens enthält, w​ird dieser a​ls Subjekt e​ines Aktivsatzes realisiert; ansonsten s​teht der Tiefenkasus, d​er dem Agens i​n der Hierarchie f​olgt (also d​er Instrumental), i​n der Subjektposition. Beispiele:

  1. John (A) opened the door (O).
  2. The key (I) opened the door (O).

Im ersten Satz enthält d​er Kasusrahmen e​in Agens, d​er zum Subjekt wird. Im zweiten Satz enthält d​er Kasusrahmen k​ein Agens, sondern a​ls nächstes Element i​n der Hierarchie e​inen Instrumental, d​er zum Subjekt wird.

Wie d​ie einzelnen semantischen Rollen syntaktisch ausgedrückt werden, hängt v​on dem verwendeten Verb ab: So w​ird der Experiencer b​eim Verb „sich wundern“ a​ls Subjekt ausgedrückt (s. o.), b​eim Verb „erstaunen“ dagegen a​ls direktes Objekt (Das Verhalten i​hres Vaters erstaunt Maria). Auch zwischen Einzelsprachen bestehen Unterschiede i​n der syntaktischen Realisierung d​er semantischen Rollen; Im Satz Mir i​st kalt erscheint d​er Experiencer a​ls indirektes Objekt, i​n der englischen Entsprechung I a​m cold dagegen a​ls Subjekt.

Weiterentwicklung

In d​en 1970er u​nd 1980er Jahren entwickelte Fillmore s​eine ursprüngliche Theorie weiter z​ur sogenannten Frame-Semantik. Noam Chomsky entwickelte d​as Konzept d​er Tiefenkasus i​m Rahmen seiner Rektions- u​nd Bindungstheorie a​ls Theta-Rollen weiter. Auch für d​ie Entwicklung framebasierter Repräsentationen i​n der KI-Forschung h​at die Kasusgrammatik Anregungen gegeben.

Kritik

Nach Peter Ernst scheitert d​ie Kasusgrammatik a​n grundlegenden Fragen, nämlich n​ach der Anzahl, Benennung u​nd Zuordnung d​er Tiefenkasus.[5]

Literatur

  • Fillmore, Charles J. (1968): The Case for Case. In: Bach & Harms (Hrsg.): Universals in Linguistic Theory. New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1–88.
  • Fillmore, Charles J. (1971): Some problems for Case Grammar. In: R.J. O´Brien (Hrsg.): 22nd Annual Round Table. Linguistics: Developments of the sixties – viewpoints of the seventies, Band 24 der Reihe Monograph Series on Language and Linguistics, Georgetown University Press, Washington D.C., 35–56.
  • Glück, Helmut (Hrsg.) (2000): Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler.

Einzelnachweise

  1. Gerhard Helbig: Probleme der Valenz- und Kasustheorie. Bd. 51 von Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft Walter de Gruyter, Berlin 1992, ISBN 3-1109-3832-4, S. 22–25
  2. Wilhelm Köller: Perspektivität und Sprache: zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Walter de Gruyter, Berlin 2004, ISBN 3-1101-8104-5, S. 394
  3. Gerhard Helbig: Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970. Springer-Verlag, Heidelberg / Berlin / New York 2013, ISBN 3-3228-6538-X, S. 124
  4. Peter von Polenz: Deutsche Satzsemantik. 3. Aufl., Walter de Gruyter, Berlin / New York 2008, ISBN 978-3-11-020366-0, S. 169
  5. Peter Ernst: Germanistische Sprachwissenschaft. 2. Auflage. Facultas, 2011, ISBN 978-3-8252-2541-4, S. 218.
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