Justizkanzlei (Großherzogtum Hessen)
Eine Justizkanzlei war im Großherzogtum Hessen ein zweitinstanzliches Gericht im Bereich der dort gelegenen größten Standesherrschaften.
Geschichte
Im Zuge der Auflösung des Alten Reichs 1806 und der Mediatisierung kamen einige zuvor reichsunmittelbare Fürsten und Grafen unter die Herrschaft des Landgrafen von Hessen-Darmstadt der damit auch zum Großherzog aufstieg. Im Zuge der Mediatisierung blieben aber die Rechte der nunmehrigen Standesherren gegenüber ihren bisherigen Untertanen ungeschmälert, auch hinsichtlich die standesherrlichen Befugnisse in der Rechtsprechung.[1] Alle Standesherren übten weiterhin die Rechtsprechung in erster Instanz durch die Ämter ihrer Standesherrschaften aus.[2] Aber nur die größten unter Ihnen boten auch eine zweite Instanz an. Soweit das der Fall war, wurden diese Gerichte als „Justizkanzlei“ bezeichnet.[3] Zumindest einige hatten – ebenso wie die Ämter – auch schon vor der Mediatisierung bestanden.[4]
Übersicht
Zuständigkeit
Örtliche Zuständigkeit
Die örtliche Zuständigkeit einer Justizkanzlei erstreckte sich über standesherrliches Gebiet. Das konnte der Teil einer Standesherrschaft[Anm. 2] sein, eine Standesherrschaft[Anm. 3] umfassen oder auch mehrere Standesherrschaften[Anm. 4].
Sachliche Zuständigkeit
Hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit waren die Justizkanzleien den Hofgerichten gleichgestellt.[10]
Theoretisch konnten die Hofkanzleien sogar als Revisionsinstanz (dritte Instanz) tätig werden. Voraussetzung dafür war allerdings eine Personalstärke von mindestens sechs Richtern, was wohl keine der im Großherzogtum Hessen tätigen Justizkanzleien aufwies. In diesen Fällen fungierte dann das Hofgericht als Revisionsinstanz.[11]
Ausgangslage
Rechtsgrundlage für die Arbeit der Justizkanzleien im Großherzogtum Hessen war zunächst die großherzogliche Deklaration vom 1. August 1807[12], dann das Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820.[13] Diese Anordnungen definierten die Stellung der Justizkanzleien zu den staatlichen Gerichten und Behörden. Justizkanzleien standen unter Staatsaufsicht, zuständig war das Innenministerium.[14] Für die Rechtsprechung der Justizkanzleien galt das Prozessrecht der Hofgerichte. Im Bereich des Strafrechts mussten Urteile mit Strafen im Umfang von mehr als drei Jahren Zuchthaus oder der Todesstrafe vor Vollstreckung noch vom Innenministerium (das damals zugleich das Justizministerium war) bestätigt werden.[15]
Den Justizkanzleien nachgeordnet waren zunächst die Ämter der Standesherrschaften. In den Ämtern waren Verwaltung und Rechtsprechung noch nicht getrennt.
Übergeordnet waren den Justizkanzleien im Zivilrecht das jeweils örtlich zuständige Hofgericht, also für die Gebiete, die in der Oberhessen lagen, das Hofgericht Gießen, für die, die in der Provinz Starkenburg lagen, das Hofgericht Darmstadt. In Strafsachen war das Oberappellationsgericht Darmstadt nächsthöhere Instanz.[15]
Die Existenz der Justizkanzleien bedeutete für Rechtssuchende aus diesen standesherrlichen Gebieten, dass der Rechtszug vier Instanzen – nicht drei, wie im übrigen Land – aufwies.
Folgen der Reform von 1821
Staatlicherseits erfolgte die Trennung der Rechtsprechung von der Verwaltung im Großherzogtum 1821. Für die Verwaltung wurden Landgerichtsbezirke, für die Rechtsprechung Landgerichte eingerichtet.[16] In den Standesherrschaften dauerte diese Modernisierung etwas länger. Hier konnte der Staat nur nach Rücksprache mit den Standesherren handeln. Aber auch hier wurde auf das neue System umgestellt:
Die Standesherrschaft Stolberg war von Anfang an, also schon 1821, dabei, allerdings mit dem Vorbehalt: Die Appellationen aus dem standesherrlichen Antheil an diesem Landgericht [ Landgericht Ortenberg ] an die Justizkanzlei zu Büdingen, so wie überhaupt die verfassungsmäßige Competenz dieses Justizcollegs sowohl in Civilsachen, als in Strafsachen, bleiben in Bezug auf gedachten Antheil vorbehalten.[16] 1822 erfolgte die Reform auch in den Gebieten der anderen großen Standesherrschaften, die eigene Justizkanzleien betrieben: Isenburg[17], Solms[18] und Erbach / Löwenstein-Wertheim.[19]
Diese Reform der erstinstanzlichen Gerichtsbarkeit ließ die Justizkanzleien unberührt und sie waren weiter die zweite Instanz in den entsprechenden standesherrlichen Gebieten. Nachgeordnet waren ihnen nun nicht mehr die Ämter, sondern die Landgerichte. Auch an der Zuordnung zu den übergeordneten Hofgerichten änderte sich nichts.
Innere Struktur
Die Justiz-Canzleyen müssen förmlich constituirte, aus gesetzmäßig für fähig erkannten, an dem Sitz der Justiz-Canzleyen ihre beständige Wohnung habenden Mitgliedern, und den nöthigen Subalternen zusammengesetzte Collegien bilden, und sich in ihren Ausfertigungen der Benennung „Großherzoglich Hessische, Fürstlich (Gräflich) z. B. Solmsische Justiz-Canzley“ bedienen.[20]
Die Mindestausstattung für eine Justizkanzlei bestand aus einem Direktor und zwei Räten als Richter sowie einer angemessenen Ausstattung an Hilfspersonal.[21] Die Richter mussten die gleichen Voraussetzungen mitbringen wie staatliche Richter. Die Ernennung und Entlassung des Personals oblag dem Standesherren[22], den Diensteid allerdings mussten sie auf den Großherzog leisten.[23] Im Übrigen waren sie hinsichtlich Rechten und Pflichten den staatlichen Kollegen gleichgestellt, etwa auch hinsichtlich der Hinterbliebenenversorgung.[24] Die Kosten der Einrichtung hatte der Standesherr zu tragen, im Gegenzug flossen ihm Gerichtsgebühren, Geldstrafen und Geldbußen zu. Die richterliche Unabhängigkeit musste garantiert sein.[21]
Ende
Der Staat war daran interessiert das Rechtsprechungsmonopol zu erlangen. Schon im Vorfeld der Reform von 1821 verhandelte das Großherzogtum seit 1820 mit allen Standesherren hinsichtlich einer Übergabe der von diesen betriebenen Gerichtsorganisationen an den Staat.[25] Durch die Staatsaufsicht über die Justizkanzleien[14] und die Bezeichnung als „großherzoglich hessisch“[20] handelte es sich faktisch um staatliche Behörden, deren Kosten die Standesherren trugen. Letztendlich führten deshalb wohl wirtschaftliche Überlegungen dazu, dass die Standesherren aufgaben: Der Betrieb dieser Einrichtungen wurde ihnen zu teuer.[25] So verzichteten die Standesherren, die die letzten drei noch bestehenden Justizkanzleien im Großherzogtum Hessen betrieben, in den folgenden Jahren:
- Solms (Justizkanzlei Hungen) 1823[8],
- Erbach und Löwenstein-Wertheim (Justizkanzlei Michelstadt) 1824[9] und
- Isenburg und Stolberg (Justizkanzlei Büdingen) 1825.[6]
Die Aufgaben, die bisher die Justizkanzleien wahrgenommen hatten, gingen auf das jeweils örtlich zuständige Hofgericht über. Faktisch bedeutete das für die Rechtssuchenden den Entfall der vierten Instanz.
Literatur
- Eckhart G. Franz, Hanns Hubert Hofmann, Meinhard Schaab: Gerichtsorganisation in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen im 19. und 20. Jahrhundert = Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Beiträge, Band 100 = Behördliche Raumorganisation seit 1800, Grundstudie 14. VSB Braunschweig, 1989, ISBN 3-88838-224-6
- Theodor Hartleben (Hg.): Allgemeine deutsche Justiz-, Kameral- und Polizeifama Teil 1, Band 2. Johann Andreas Kranzbühler, Darmstadt 1832.
- Heribert Reus: Gerichte und Gerichtsbezirke seit etwa 1816/1822 im Gebiete des heutigen Landes Hessen bis zum 1. Juli 1968. Hg.: Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden [1984].
Anmerkungen
- Fürstliche Linien Solms-Braunfels und Solms-Lich und gräfliche Linien Solms-Laubach, Solms-Rödelheim und Solms-Wildenfels (Heinrich Karl Wilhelm Berghaus: Das europäische Staatensystem, nach seinen geographisch-statistischen Hauptverhältnissen. Verlag Hoffmann, 1839, Seiten 353 ff – google books).
- So die Justizkanzlei Büdingen, die nur für den großherzoglich-hessischen Teil der Standesherrschaft zuständig war. Für den Teil, der im Kurfürstentum Hessen lag, gab es die Justizkanzlei Meerholz.
- So die Justizkanzlei Hungen.
- So die Justizkanzleien Büdingen und Michelstadt.
Einzelnachweise
- Art. 27 Rheinbundakte: Ein jeder der jetzt regierenden Fürsten oder Grafen behält als Patrimonial- oder Privateigenthum […] auch alle Herrschafts- und Feudalrechte, die nicht wesentlich zur Souverainetät gehören, namentlich das Recht der niedern und mittlern bürgerlichen und peinlichen Gerichtsbarkeit […].
- Reus, [ohne Seitenzählung], Abschnitt Standesherrliche Ämter und Patrimonialgerichte.
- Franz / Hofmann / Schaab, S. 162.
- Vgl.: Regierungen und Justizkanzleien – Bestand E 9.1 des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt aus dem 18. Jahrhundert auf Arcinsys.
- Neueste Länder- und Völkerkunde. Ein geographisches Lesebuch für alle Stände, 22. Band = Mecklenburg, Kur-Hessen, Hessen-Darmstadt. Landes-Industrie-Comptoire, Weimar 1823, S. 358f.
- Die Auflösung der Großherzoglich Hessischen Fürstlich und Gräflich Isenburgischen und Gräflich Stolbergischen Gesamt-Justiz-Kanzlei zu Büdingen betreffend vom 10. Februar 1825. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 10 vom 23. Februar 1825, S. 97.
- § 27 Abs. 3 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (137).
- Die Auflösung der Großherzoglich Hessischen Fürstlich und Gräflich Solmsischen Gesamt-Justiz-Kanzlei zu Hungen betreffend vom 3. September 1823. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 29 vom 29. September 1823, S. 352
- Die Auflösung der Großherzoglich Hessischen, Fürstlich Löwenstein und Gräflich Erbachischen Gesamt-Justiz-Kanzlei zu Michelstadt betreffend vom 5. Februar 1824. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 4 vom 1. März 1824, S. 24.
- § 27f Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (137f).
- § 28 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (137f).
- Deklaration vom 1. August 1807. In: Großherzoglich Hessische Verordnungen 1 (1806–1808), Darmstadt 1811, S. 9–23.
- Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160
- § 36 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (140).
- § 19 Deklaration vom 1. August 1807. In: Großherzoglich Hessische Verordnungen 1 (1806–1808), Darmstadt 1811, S. 9–23.
- Die Eintheilung des Landes in Landraths- und Landgerichtsbezirke betreffend vom 14. Juli 1821. In: Großherzoglich Hessisches Ministerium des Inneren und der Justiz. (Hrsg.): Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt. 1821 Nr. 33, S. 403 ff. (412) (Online bei der Bayerischen Staatsbibliothek).
- Die Bildung des Landraths- und Landgerichts-Bezirks Büdingen betreffend vom 24. Januar 1822. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 5 vom 15. Februar 1822, S. 31–32.
- Die neue Landeseintheilung und Organisation der untern Justiz und Verwaltungsbehörden – insbesondere in den fürstlich und gräflich Solmsischen Besitzungen betreffend vom 24. April 1822. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 15 vom 16. Mai 1822, S. 182.
- Die Bildung des Landraths-Bezirks Erbach und der Landgerichts-Bezirke Michelstadt und Beerfelden betreffend vom 21. Mai 1822. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt Nr. 18 vom 17. Juni 1822, S. 199f.
- § 27 Abs. 2 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (137).
- § 20 Deklaration vom 1. August 1807. In: Großherzoglich Hessische Verordnungen 1 (1806–1808), Darmstadt 1811, S. 9–23.
- §§ 22, 24 Deklaration vom 1. August 1807. In: Großherzoglich Hessische Verordnungen 1 (1806–1808), Darmstadt 1811, S. 9–23; § 31 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (139).
- § 23 Deklaration vom 1. August 1807. In: Großherzoglich Hessische Verordnungen 1 (1806–1808), Darmstadt 1811, S. 9–23; § 33 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (139).
- § 70 Edict, die standesherrlichen Rechts-Verhältnisse im Großherzogthum Hessen betreffend vom 27. März 1820. In: Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, Nr. 17 vom 29. März 1820, S. 125–160 (158).
- Hartleben, S. 271.