Johanneische Schule
Als johanneische Schule (auch johanneischer Kreis) werden nach Jens-Wilhelm Taeger (1989) die Verfasser der Schriften des Johannesevangeliums, der drei Johannesbriefe und der Offenbarung des Johannes bezeichnet. Nach Schnelle (2016)[1] sei die Stellung der Offenbarung des Johannes aber bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur johanneischen Schule umstritten. So bestünden hierin gewichtige Unterschiede sowohl in der Diktion, der Betrachtung historischer Fakten und der gesamten Denkstruktur.
Die These, es handle sich bei den Verfassern der johanneischen Schriften um einen bestimmten Autorenkreis oder eine gemeinsame Schule, bezieht sich auf den Ansatz, die Schriften seien zu unterschiedlich, als dass wissenschaftlich ein einziger Autor Johannes angenommen werden könne, erläutert aber auch die zahlreichen stilistischen und theologischen Gemeinsamkeiten dieser Schriften.
Belege für eine johanneische Schule
Die neutestamentliche Forschung geht inzwischen mehrheitlich davon aus, dass sowohl die literarische Gestaltung als auch das theologische Profil des Johannesevangelium dagegen sprechen, dass ein Augenzeuge und Jünger Jesu der Verfasser des Textes war. Einige Theologen sehen in Johannes den Presbyter[2] den hypothetischen Verfasser des 2. und 3. Johannesbriefes.[3]
Als mögliche Varianten für den Entstehungsort des Johannesevangeliums werden in der Forschung Kleinasien – hier die Stadt Ephesus – sowie die römische Provinz Syria diskutiert. Für Kleinasien sprechen vor allem die altkirchlichen Traditionen, die Auseinandersetzung mit doketischen Tendenzen und die Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums. Dazu gehören vor allem die drei Johannesbriefe,[4] die ähnliche Themen behandeln. Auch die sieben Sendschreiben an Gemeinden mit Ephesus als Zentrum nach der Offenbarung des Johannes können als Hinweis auf eine „Johanneische Schule“ in Ephesus gelten.[5]
Für die römische Provinz Syria sprechen der Ursprung der angesprochenen Gemeinde sowie die Nähe zu gnostisch-mandäischen Texten.
Der Theologe Schnelle (1987)[6] sieht in den Ergebnissen der Untersuchungen der beiden Neutestamentler Wilhelm Bousset (1915)[7] und Wilhelm Heitmüller (1914)[8] einen sicheren Beleg für die Existenz einer ‚johanneischen Schule‘. Schnelle (2011 und 2016) diskutiert auch die Frage der Abfolge der johanneischen Texte. Er beschreibt zwei Modelle:
- das „klassische Modell“; mit der Abfolge: Johannesevangelium → 1. Johannesbrief → 2. Johannesbrief → 3. Johannesbrief
- das alternative Modell; mit der Abfolge: 2. Johannesbrief → 3. Johannesbrief → 1. Johannesbrief → Johannesevangelium[9][10]
In dem „alternativen Modell“ findet nach Schnelle die Überlegung ihren Ausdruck, dass sich dieser Reihenfolge eine fortschreitende Entwicklung und Entfaltung der johanneischen Theologie abzeichnen würde.
Theologische Gemeinsamkeiten
So gäbe es Hinweise in den theologischen Übereinstimmungen in den drei Briefen des Johannes und dem Evangelium nach Johannes. So seien einige zentrale Vorstellungen gemeinsam:
- Einheit von Vater und Sohn:
- Fleischwerdung Jesu Christi:
- Dualismus zwischen Gott und der Welt:
- Aus Gott gezeugt sein:
- Erkennen Gottes:
- Bleiben in Gott, in Jesus, in der Wahrheit und in der Lehre:
- Wasser und Blut Jesu Christi:
- Gebot der Liebe:
- Aus der Wahrheit sein bzw. die Wahrheit erkennen:
- Aus Gott sein:
- Halten der Gebote:
Sprachliche Gemeinsamkeiten
Nach Schnelle (1987) wiesen die Ideolekte der einzelnen Autoren auf einen Soziolekt des ‚johanneischen Kreises‘ hin.[12] So wiesen ‚Vorzugswörter‘ aus der griechischen Sprache, die sich in den Briefen und dem Evangelium häuften, aber in den übrigen Neuen Testament weitaus in geringerer Anzahl vorkämen, auf eine deutliche Gemeinsamkeit hin. Aber auch der Gebrauch bzw. das Fehlen von Wörtern im johanneischen Schrifttum im Vergleich zum übrigen Neuen Testament gäben Indizien. Letztlich sind gemeinsame Redewendungen Ausdruck des johanneischen Soziolekts.[13]
Ekklesiologische Termini, ethische Aussagen, Darstellung Jesu
Funktionsbezeichnungen für und innerhalb der christlichen Gemeinden, Anreden, Ehrenbezeichnungen sind weitgehend identisch. Bruderliebe und Nächstenliebe sind kennzeichnende Merkmale des christlichen Handelns. Jesus wird vermehrt als Lehrer, als Rabbi[14] (hebräisch רַבִּי), griechisch ῥαββί betrachtet. Diese Anrede ist weitaus häufiger als in den synoptischen Evangelien.[15]
Anonyme Gestalt des ‚Lieblingsjüngers‘
Der ‚Lieblingsjünger‘ wurde im Johannesevangelium nie mit seinem Namen genannt. Die anonyme Gestalt des ‚Lieblingsjüngers‘ rückt in die unmittelbare Nähe Jesu (Joh 19,35 , Joh 13,23 Joh 19,26 , Joh 20,2 , Joh 21,7 , Joh 21,20 ) und stellt eine Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der johanneischen Schule her. Denn der ‚Lieblingsjünger‘ wäre der ideale Tatsachenzeuge gewesen, habe er doch alles genau gesehen und dies aus der richtigen Perspektive.[16] Hierdurch stünde er in einer Art Identitätsverhältnis zu Jesus und würde mit dem Geist, der in den Jüngern wirke, identifiziert. Die johanneischen Schule könnte demnach die Paraklet-Vorstellung benutzt haben, um ihre eigene Theologie zu legitimieren. Im Johannesevangelium nennt Jesus den Heiligen Geist „den Parakleten“, der von Gott herkommt, den er, Jesus Christus, seinen Jüngern senden wird, um sie zu ermutigen in Schwierigkeiten, um für sie zu sprechen, um sie zum Ziel zu bringen. Ebenso ist es der Heilige Geist, der die Menschen mit Gott verbindet, sie zur Erkenntnis Gottes und des Erlösungswerkes in Jesus Christus, zu reuiger Selbsterkenntnis und zur Hoffnung führt (vgl. Joh 14,16 ; 14,26 ; 15,26 ; 16,7 ).
Ephesos als Ort der johanneischen Schule
Nur knapp 20 Jahre nach dem Wirken Jesu war seine Lehre durch Apollos nach Ephesos an der kleinasiatischen Westküste gelangt (Apg 18,24–28 ). Die Gemeinde von Ephesos war damit eine der ältesten christlichen Gemeinden überhaupt.
Auf die Verkündigung des Apollos konnte der Apostel Paulus aufbauen, der bereits auf dem Rückweg von seiner 2. Missionsreise (ca. 52 n. Chr.) dort kurz Station gemacht hatte (Apg 18,19 ). Er erregte dort unter anderem den Unwillen der Devotionalienhändler, die um ihr gutes Geschäft mit der „Diana der Epheser“ fürchteten. Rechtlich wurde Paulus aber in der Stadt geduldet. Ungefähr ein Jahr später traf er erneut in Ephesos ein (Apg 19 ) und blieb vermutlich drei Jahre, von denen er wohl einige Zeit im Gefängnis verbringen musste. Während dieser Gefangenschaft schrieb er die Briefe an die Philipper und an Philemon. Auch weitere seiner Briefe sind höchstwahrscheinlich in Ephesos entstanden (so der Römerbrief, der erste und zweite Brief an die Korinther sowie der Galaterbrief).[18] Ein wichtiges Schreiben richtete sich an die Epheser selbst. Die christliche Gemeinde in Ephesos ist sodann die Empfängerin des ersten Sendschreibens der Johannesapokalypse (Offb 2,1–7 ) an die sieben Gemeinden in Kleinasien (Offb 1,11 ).
Der Sitz der Schule, und damit auch der wahrscheinliche Abfassungsort des Johannesevangelium dürfte eben Ephesus gewesen sein.[19] In der Region um Ephesus gab es verschiedene christliche und insbesondere auch johanneische Gemeinden, der Hauptgemeinde in der Stadt Ephesus selbst angesiedelt war. Viele Übereinstimmungen zwischen der paulinischen und johanneischer Theologie verweisen auf Ephesus als dem gemeinsamen Sitz von Paulus- und Johannesschule. Die johanneischen Gemeinden dürften vorwiegend als Hausgemeinden organisiert haben. Ein Hinweis hierauf gibt die Familien-Metaphorik. Johanneische Schule oder Schulen waren nicht einfach mit den Gemeinden gleichzusetzen. Die Gemeinde stellte die umfassendere Struktur dar, zur Schule hingegen zählten nur diejenigen, die aktiv an der johanneischen Theologiebildung beteiligt waren, die eine Interpretationsgemeinschaft bildeten und die Narration johanneischen Denkens weiterentwickelten.
Literatur
- Jens-Wilhelm Taeger: Johannesapokalypse und johanneischer Kreis. Versuch einer traditionsgeschichtlichen Ortsbestimmung am Paradigma der Lebenswasser-Thematik. Walter De Gruyter, New York/Berlin 1989, ISBN 3-11-011359-7
- Georg Strecker: Die Anfänge der Johanneischen Schule. New Testament Studies, Volume 32, Issue 1, January 1986, S. 31–47
- Theo K. Heckel: Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Bd. 120, Mohr Siebeck, Tübingen 1999, ISBN 978-3-1614-7199-5
- R. Alan Culpepper: The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools. (Society of Biblical Literature. Dissertation), Scholars Press 1975, ISBN 978-0-8913-0063-2
- Eugen Ruckstuhl: Die literarische Einheit des Johannesevangelium. Sudia Friburgensia, Fribourg 1951
- Udo Schnelle: Die johanneische Schule. In: Friedrich Wilhelm Horn (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments (= Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft. 75), BZNW 75, Berlin/New York 1995, S. 198–217.
Weblinks
Anmerkungen
- Udo Schnelle: Das Evangelium nach Johannes. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament. 5. Aufl., Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, ISBN 978-3-374-04317-0, S. 2
- zur Frage des Verfassers auch Evangelium nach Johannes#Der Presbyter Johannes
- Hugh J. Schonfield: Preface to the Letters of John the Elder. In: The Original New Testament. The definitive translation of the New Testament in 2000 years. Element Books Ltd, Shaftesbury, Dorset, UK. 1998, S. 533f.
- siehe auch jeweils 1. Brief des Johannes; 2. Brief des Johannes; 3. Brief des Johannes. Der 2. und 3. Johannesbrief gleichen sich untereinander sowohl inhaltlich als auch sprachlich sehr, unterscheiden sich aber stark vom 1. Johannesbrief. Der 2. und 3. Johonnnesbrief sind Gelegenheitsbriefe, die jeweils auf eine konkrete Situation reagierten. Aufgrund der Verfasserangabe wird davon ausgegangen, dass der zeitliche Abstand zwischen der Abfassung der beiden Briefe relativ kurz war.
- Udo Schnelle: Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion. UTB Band 4411, 2. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-8252-4606-8, S. 351 ( auf books.google.de)
- Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-53823-5, S. 53
- Wilhelm Bousset: Jüdisch-christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom. Literarische Untersuchungen zu Philo und Clemens von Alexandria, Justin und Irenäus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1915 (ND Olms, Hildesheim/Zürich/New York 2004), S. 316.
- Wilhelm Heitmüller: Zur Johannes-Tradition. ZNW 15 (1914), S. 189–209
- Udo Schnelle: Die Reihenfolge der johanneischen Schriften. New Testament studies (NTS) 57, (2011), S. 91–113
- Udo Schnelle: Das Evangelium nach Johannes. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament. 5. Aufl., Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, ISBN 978-3-374-04317-0, S. 9
- Udo Schnelle: Das Evangelium nach Johannes. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament. 5. Aufl., Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, ISBN 978-3-374-04317-0, S. 1
- Eduard Ruckstuhl: Zur Antithese von Idiolekt und Soziolekt im johanneischen Schrifttum. Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt (SNTU) 12 (1987), 141–181.
- Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-53823-5, S. 54
- oder aramäisch Rabbuni „Meister, Lehrer“
- Udo Schnelle: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-53823-5, S. 54; 55; 56
- Thomas Söding: „Er hat es gesehen“ (Joh 19,35). Der Lieblingsjünger in der Leidensgeschichte Jesu. ( auf kath.ruhr-uni-bochum.de)
- Geographische Daten von P. Scherrer (Hrsg.): Ephesos, The New Guide. Selçuk, 2000.
- Stefan Meißner: Paulus in Ephesus, in: christen-und-juden.de, 2000 (= "Christoph Burchard zum 70. Geburtstag")
- Udo Schnelle: Das Evangelium nach Johannes. Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament. 5. Aufl., Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2016, ISBN 978-3-374-04317-0, S. 2–3; Fußnoten 7; 8