Internalisierung (Psychologie)
Als Internalisierung (aus „lat. internus` im Inneren befindlich, inwendig, der innere’“) bezeichnet man in der Psychologie, ähnlich wie in den Sozialwissenschaften (siehe Internalisierung (Sozialwissenschaften)), allgemein den Prozess des Verinnerlichens.[1][2] Damit gemeint ist die An- oder Übernahme von Werten, Normen, Regeln usw. eines bestimmten sozialen Beziehungsgefüges.[1] Die Fähigkeit zur Internalisierung ist eine unausweichliche, sogar notwendige Entwicklungsaufgabe. Als solche vollzieht sie sich in den frühen Beziehungen etwa zwischen Eltern und Kindern, später zwischen Kind und anderen Kindern (Geschwister, Gleichaltrige, Freunde, Schulklasse usw.), bis hin zur weitreichenden Sichtweise des einzelnen Individuums in seiner Stellung zur jeweiligen Gesamtgesellschaft. Sozial ist dabei in einem wertfreien und unabhängigen Sinne von zwischen Menschen zu verstehen.
Internalisierung als Basis für Verhalten und Persönlichkeitsentwicklung
Internalisierungen von Werten, Normen, Regeln usw. eines zwischenmenschlichen Beziehungsgefüges bilden eine wichtige Grundlage menschlichen Verhaltens. Nach erfolgter Internalisierung können resultierende Verhaltensweisen automatisch ablaufen, sie sind innerlich programmiert. Dem äußerlich differenzierbaren Verhalten eines Individuums liegt also immer ein innerpsychisch verankertes Programm zugrunde. Im Zuge der Verinnerlichung sind dabei aus interpersonellen Prozessen intrapsychische geworden.[3] Sind diese intrapsychischen Inhalte verfestigt, werden sie im weiteren Verlauf auch in der Interaktion mit anderen Menschen wirksam und an diese weitergegeben (vgl. auch Externalisierung).
Ungeachtet seiner Unausweichlichkeit und Notwendigkeit ist der Prozess der Internalisierung an sich nicht per se als im Ergebnis positiv zu betrachten. Entscheidend ist, was genau verinnerlicht wird, in welchem Zusammenhang die Internalisierungen wirksam werden und inwiefern sie – falls nötig – korrigierbar sind.
Beispiel aus der Bindungstheorie (vereinfacht)
Nach Vorstellung der Bindungstheorie besteht beim Menschen ein eben spezifisch menschliches, angeborenes und damit auch neurobiologisch verankertes Bedürfnis nach enger emotionaler Bindung an andere Menschen (vgl. Pflegeverhalten, Bindungsverhalten).[4][5] Unter günstigsten Bedingungen zwischen Kind und den frühen Bezugspersonen, entwickelt sich von diesem Bedürfnis ausgehend eine sichere Bindung. In deren Rahmen internalisiert das Kind Mutter und Vater als verlässliche, liebevolle, am Kind und seiner persönlichen Entfaltung orientierte Bezugspersonen und speichert im innerpsychisch (auch neurobiologisch) verankerten Programm sichere „innere Arbeitsmodelle“ als Norm der Interaktion zwischen sich selbst und anderen Menschen.[6] Verkürzt ausgedrückt, sind über diese Verinnerlichung die besten biopsychosozialen Grundlagen für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung gelegt worden.
Aber eine Internalisierung erfolgt auch unter ungünstigsten Bedingungen.[7] Wenn das Bedürfnis nach enger emotionaler Bindung angeboren ist, dann wird es unabhängig von der Situation wirksam, in die ein Kind hineingeboren wird. Sind nun diese Bedingungen eher unsicher, unverlässlich, abweisend oder gar schädigend, so bilden Unsicherheit, Unverlässlichkeit, Abweisung oder gar Schadhaftigkeit der Interaktion mit den frühen Bezugspersonen die Grundlage für die Ausprägung eines anderen, unsicheren, desorientierten usw. Bindungsstils. Internalisiert werden in diesem Fall solche Arbeitsmodelle, mit denen – vermeintlich – am ehesten die enge emotionale Bindung zu den Bezugspersonen hergestellt werden kann. Das sind eben solche Arbeitsmodelle, die der Unsicherheit, Unverlässlichkeit, Abweisung oder gar Schadhaftigkeit der Eltern am ehesten entgegenkommen (vgl. kooperatives Verhalten).[4] [5] Eine andere Norm wurde verinnerlicht (und neurobiologisch verankert), und dient nun als Basis für die Persönlichkeitsentwicklung.
Modi oder Stufen der Internalisierung
In der Fachliteratur oder in verschiedenen Zusammenhängen der Psychologie werden Identifikation, Imitation, Internalisierung, Introjektion, Inkorporation und Ich-Identität als verschiedene Modi oder Niveaustufen der Internalisierung unterschieden.[8][9] Nicht immer erscheint das Auseinanderhalten der dahinterstehenden Inhalte einfach. Festzuhalten bleibt die Erkenntnis, dass eine vollständige Internalisierung bedeutet, dass jene Inhalte zum festen (nicht gleichzusetzen mit unkorrigierbar) Bestandteil des Selbst geworden sind.
Internalisierung und Individuum
Es ist zu beachten, dass im Zuge der Internalisierung nicht objektive, „unformatierte“ Informationen verarbeitet werden, sondern auch vorgestellte, d. h. unbewusst subjektiv ergänzte Bedeutungen und Erwartungen verinnerlicht werden.[9] Bezogen auf das angeführte Beispiel aus der Bindungstheorie könnte man es vereinfacht so formulieren: Unsicherheit o. Ä. der Bezugspersonen im Pflegeverhalten wird ggf. nicht nur als schlichte Unsicherheit „internalisiert“, sondern gleichzeitig ggf. auch als Abweisung o. Ä.
Siehe auch
Einzelnachweise
- DocCheck Medical Services GmbH: Internalisierung. Abgerufen am 24. Oktober 2020.
- DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Abgerufen am 24. Oktober 2020.
- Wolfgang Wöller, Johannes Kruse: Perspektivenvielfalt und Adaptivität. In: Wolfgang Wöller, Johannes Kruse (Hrsg.): Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. 5., aktualisierte Auflage. E-Book-Version. Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-19143-1, S. 88.
- John Bowlby: Elterliches Pflegeverhalten. In: Bindung als sichere Basis. 3. Auflage. Reinhardt, Ernst, München 2014, ISBN 978-3-497-02454-4, S. 4–15.
- John Bowlby: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. In: Bindung als sichere Basis. 3., Auflage. Reinhardt, Ernst, München 2014, ISBN 978-3-497-02454-4, S. 97–111.
- Mary Gemma Cherry, Peter James Taylor, Stephen Lloyd Brown, William Sellwood: Attachment, mentalisation and expressed emotion in carers of people with long-term mental health difficulties. In: BMC Psychiatry. Band 18, Nr. 1, Dezember 2018, ISSN 1471-244X, S. 257, doi:10.1186/s12888-018-1842-4, PMID 30115039, PMC 6097417 (freier Volltext).
- Eckhard Roediger, Matias Valente: SCHEMATHERAPIE. KOHLHAMMER VERLAG [Kindle-Version], Stuttgart 2020, ISBN 978-3-17-035983-3, S. 38, 81.
- Wolfgang Wöller, Johannes Kruse: Therapieziele und Therapiefokus. In: Wolfgang Wöller, Johannes Kruse (Hrsg.): Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. 5., aktualisierte Auflage; E-Book-Version. Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-19143-1, S. 176; 731.
- Marianne Leuzinger-Bohleber, Heinz Weiß: Psychoanalyse - die Lehre vom Unbewussten. 1. Aufl. E-Book-Version. Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-022322-6, S. Pos. 950; 1400.