Impetustheorie
Die Impetustheorie (von lateinisch impetus = das Vorwärtsdrängen, der Schwung) ist eine überholte Theorie zur „dynamischen“ Erklärung der Bewegung von Körpern, die aus einer christlichen Kritik der materialistischen aristotelischen Bewegungslehre hervorging. Der Impetus ist dabei eine unkörperliche (immaterielle) Bewegungsursache oder eher spirituell verstandene „Kraft“, die auf einen zu bewegenden Körper übergeht, um dessen Bewegung hervorzubringen.
Im Mittelalter bildete die Impetustheorie eine wichtige Grundlage der Ballistik. In der auf Isaac Newtons Werk aufbauenden Klassischen Mechanik ist der Begriff des Impetus eliminiert worden und seine Bedeutung zu Teilen in die ursachenlose Trägheitsbewegung, den Impuls und die kinetische Energie eingeflossen.
Untersuchungen an Studienanfängern bezüglich ihres Verständnisses des Verhaltens bewegter Objekte ergaben, dass die intuitiven Erklärungsansätze eines großen Teils der Probanden auch heute noch große Ähnlichkeit mit der Impetustheorie aufweisen.[1][2]
Geschichte
Die Impetustheorie wurde bereits im 6. Jahrhundert von dem spätantiken griechischen Gelehrten Johannes Philoponos diskutiert. Ein Vorläufer der Theorie wurde auch von Franz von Marchia im 14. Jahrhundert vertreten. Der französische Philosoph Johannes Buridan entwickelte die Impetustheorie dann bald darauf entscheidend weiter. Auch Galileo Galilei verwendete in seinen frühen Schriften und noch in den „Discorsi“ eine Beschreibung von fallenden Körpern, die der Impetustheorie nahekam, und Leonardo da Vinci griff zur Beschreibung von Kreisbewegungen auf das Konzept des Kreisimpetus zurück. Newton benutzt in den Principia das Wort 'Impetus' als eine Erscheinungsform seiner die Bewegungs- bzw. die Ruhe erhaltenden 'Kraft der Trägheit'.[3]
Klassisches Beispiel: Ballistische Probleme
Geschichte
Die Impetustheorie ging wie die aristotelische Physik davon aus, dass eine Bewegung nur möglich sei, solange eine entsprechende Bewegungsursache (in heutiger Sichtweise also eine Kraft) wirke. Um einen Gegenstand in Bewegung zu halten, sollte dieser ständig durch einen anderen Körper bewegt werden. Diese Annahme machte es jedoch unmöglich, die Bewegung von Geschossen zu erklären, da diese nach dem Verlassen des Gewehrlaufes keinen Kontakt zu einem anderen festen Körper haben. Die Impetustheorie löste dieses Problem durch die Annahme einer immateriellen ursächlichen Kraft, die dem Geschoss beim Abschuss aufgeprägt wird – der Impetus. Um die bei realen Gegenständen beobachtete stetige Verlangsamung der Bewegung zu erklären, nahm man weiterhin an, dass der Impetus hierbei stetig abnimmt. War der Impetus aufgebraucht, sollte der Körper senkrecht zu Boden fallen.
Laut der Beschreibung des persischen Philosophen Avicenna im 11. Jahrhundert bewegt sich ein Geschoss nach Verlassen des Geschützes so lange geradlinig in Abschussrichtung bis sein anfänglicher Impetus vollständig verbraucht ist (A→B). Danach soll der Körper für einen kurzen Augenblick zum Stillstand kommen (Punkt B), um anschließend durch seine natürliche Schwere einen Abwärtsimpetus zu erfahren, wodurch dieser senkrecht nach unten fällt (B→C).
Der Scholastiker Albert von Rickmersdorf schlug im 14. Jahrhundert eine etwas genauere Beschreibung der Flugbahn vor. Er teilte die Bewegung in drei Phasen ein. Anfangs sei der Impetus so hoch, dass er die natürliche Schwere des Körpers überwiege. Der Körper bewege sich auf einer Geraden (A→B). Mit dem Verschwinden des Impetus steige der Einfluss des Gewichtes und das Geschoss beschreibe einen Bogen (B→C). Ist der Impetus verbraucht, falle das Projektil senkrecht zu Boden (C→D).
Spätestens mit Pierre Gassendis Formulierung des Trägheitsprinzips und den von ihm durchgeführten Experimenten im 17. Jahrhundert wurde die Gültigkeit der Impetustheorie widerlegt.
Tatsächliche Flugbahn
Ohne Berücksichtigung der Luftkräfte auf ein frei fliegendes Objekt (Oberflächenreibung, Formwiderstand, aerodynamischer Auf- oder Abtrieb) ist die Flugbahn eine Wurfparabel. Bei langsamen Objekten bleibt die Parabelform auch bei Berücksichtigung der Luftkräfte weitgehend erhalten (Beispiel: Wurf eines Tennisballs von einer Hand in die andere). Alle einzelnen Luftkräfte wachsen jeweils exakt oder annähernd quadratisch mit der Fluggeschwindigkeit, so dass auch die Gesamtkraft (resultierend auch der Gesamtwiderstand) quadratisch mit der Geschwindigkeit zunimmt. Bei hohen Geschwindigkeiten geht also mehr kinetische Energie durch die Überwindung des Luftwiderstandes verloren und es wird weniger Energie in die Bewegung gegen die Schwerkraft umgewandelt (potenzielle Energie).
Dieser Umstand hat Auswirkungen auf die Gestaltung der optimalen Flugbahn beziehungsweise des Abschusswinkels eines Geschosses. Schnelle reale Objekte, wie beispielsweise Kanonenkugeln, ein abgeschlagener Golfball, ein geworfener Speer oder Diskus oder die Tropfen eines Druckwasserstrahls, bewegen sich auf Flugbahnen, wie sie ähnlich nach der Impetustheorie zu erwarten sind. So wird die maximale Weite nicht bei einem Abschusswinkel von 45° erreicht, wie er für Geschosse ohne Luftkräfte errechnet werden kann, sondern bei kleineren Winkeln, und zwar umso kleineren Winkeln, je schneller die Abschussgeschwindigkeit und je kleiner die Masse des Objekts im Verhältnis zur Querschnittsfläche ist. Insofern liefert die Impetustheorie – wiewohl sachlich nicht richtig – eine oft brauchbare Näherungslösung für das, was mit bloßem Auge oder einfachen Flugbahnaufzeichnungen (z. B. Feuchtigkeitslinie an einer angespritzten, senkrechten Wand) beobachtet werden kann.
Literatur
- Michael McCloskey: Impetustheorie und Intuition in der Physik. In: Spektrum der Wissenschaft: Newtons Universum, Heidelberg 1990, ISBN 3-89330-750-8, S. 18.
- Ed Dellian: Does Quantum Mechanics Imply the Concept of Impetus?, Physics Essays 3 Nr. 4 (1990) S. 365.
- Klaus Hentschel: Zur Begriffs- und Problemgeschichte von 'Impetus', in Hamid Reza Yousefi und Christiane Dick (Hrsg.) Das Wagnis des Neuen. Kontexte und Restriktionen der Wissenschaft, Nordhausen: Bautz 2009, S. 479–499.
- Michael Wolff: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchungen zum Ursprung der klassischen Mechanik. Frankfurt: Suhrkamp, 1978.
Einzelnachweise
- A. Caramazza, M. McCloskey, B. Green: Naive beliefs in "sophisticated" subjects: Misconceptions about trajectories of objects. In: Cognition 9 (2), 1981, S. 117–123.
- Edgar Fieberg: Das intuitive Wissen über Bewegungsgesetze: Entwicklungspsychologische Untersuchungen zum intuitiven Wissen im Handeln, Wahrnehmen und Urteilen. Waxmann Verlag, 1998, ISBN 978-3-89325-646-4.
- Isaac Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (I.B. Cohen, ed.), Berkeley: University of California Press 1999