Holokratie
Holokratie (auch Holakratie; Kompositum nach altgriechisch ὁλός holos „vollständig, ganz“ und κρατία kratía „-kratie, Herrschaft“; im Englischen mit Lautangleichung holacracy) ist eine von dem Unternehmer Brian Robertson aus Philadelphia (USA) auf Basis der Soziokratie in seiner Firma Ternary Software Corporation entwickelte Systemik, die Entscheidungsfindungen „mit durch alle Ebenen hindurch gewünschter Transparenz und partizipativen Beteiligungsmöglichkeiten“ in großen Netzwerken und vielschichtigen Unternehmen eine günstige Struktur gibt.
Allgemeines
Holokratie intendiert, einer Organisation ein spezifisches, zentrales Regelwerk zu bieten: die „Holokratie-Verfassung“ (Holacracy Constitution). Dieses Regelwerk ist unter einer offenen Lizenz verfügbar und wird kontinuierlich weiterentwickelt. Die Verfassung untergliedert sich in folgende fünf Kapitel:[1][2]
- „Rollen füllen“[3]
- „Kreisstruktur“[4]
- „Governance-Prozess“[5]
- „Operativer Prozess“[6]
- „Adoption Matters“ („Angelegenheiten der Inkraftsetzung“)[7]
Die Entscheidungsfindung nach dem Prinzip der „Integrativen Entscheidungsfindung“ bildet die Basis der dynamischen Steuerung. Sie ist ein Prozess von häufigen und kleinen Kurskorrekturen an Stelle von monumentalen Grundsatzplanungen (angelehnt an das evolutionäre Prinzip der natürlichen Entwicklung). So können schwerfällige „bürokratische“ Prozesse umgangen werden, die sowohl in hierarchischen Organisationen als auch in konsensorientierten Gemeinschaften entstehen. Stattdessen wächst eine gegenwartsbezogene Handlungsfähigkeit.
Die Einführung dieser neuartigen Organisationsstruktur kann mehr Klarheit in die Arbeitsabläufe bringen, die Verantwortungsbereiche neu abstecken, Entscheidungen vereinfachen und dezentralisieren und nicht zuletzt die Kreativität und Arbeitsmoral der Mitarbeiter steigern sowie deren persönliche Entwicklung positiv unterstützen.
Vier wichtige Leitlinien der Holokratie
Doppelte Verbindung (double-linking)
Um eine klare Kommunikation zwischen den verschiedenstufigen Kreisen zu gewährleisten, arbeitet Holokratie mit double-linking: Jeder Kreis wählt einen (oder mehrere) Vertreter in den nächsthöheren Kreis, dem er angehört (Rep-Link), und jeweils einen (oder mehrere) Vertreter in die unteren Kreise, die ihm angehören (Lead-Link). Auch das Entsenden in die Nachbar-Kreise und deren Integration kann sinnvoll sein. Diese Vertreter geben aktuelle Informationen aus dem Kreis, aus dem sie kommen, und vertreten dessen Interessen im oberen/unteren Nachbar-Kreis. Sie sind bei Entscheidungen in den Kreisen gleichberechtigt (d. h. ihre Stimme muss gehört und integriert werden).
Auf diese Weise ist die Kommunikation und das Feedback nicht nur von „oben“ nach „unten“ wie in hierarchischen Organisationen, sondern auch von den Ausführenden zu den Planern, Managern etc., also zwischen allen Mitwirkenden gewährleistet. Es wird allen am Prozess Beteiligten gleiches Gewicht gegeben, jedenfalls auf kommunikativer Ebene. („Oft werden sogar die Nutzer gefragt und ihre Wünsche berücksichtigt.“)
Ein anderes Modell der Verlinkung von Gruppen, allerdings nur mit einem Link und gedacht für die organisatorische Aufwärts-Integration, ist das Linking-Pin-Modell.
Trennung von Steuerungs- und operativen Treffen
Steuerung ist im holokratischen System in allen Elementen der Organisation verteilt. In den Steuerungstreffen, die jeder Kreis abhält, wird darüber nachgedacht und entschieden, wie man in dem Kreis zusammenarbeitet: Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse werden abgesteckt und vereinbart. Hier geht es um die Weiterentwicklung und Optimierung der Betriebsstruktur: was braucht der Betrieb für einen reibungslosen Ablauf? In Steuerungs-Meetings wird bewusst nicht über Ressourcenfragen (Geld, Zeit, Personal) entschieden.
Die operativen Treffen regeln – wie in vielen Betrieben – die Aktivitäten des Tagesgeschäfts.
Ein großer Vorteil dieser Trennung ist unter anderem, dass die Art der Zusammenarbeit mit viel Sorgfalt gepflegt und zu Ende gedacht werden kann, ohne zu früh von „zu wenig Zeit, kein Geld, kein Personal“ unterbunden zu werden.
Zuständigkeiten und Rollen
Holokratie legt Wert darauf, nicht in traditionellen Organigrammen und Ämterhierarchien, sondern in Rollen und Zuständigkeiten im Betriebsablauf zu arbeiten.
Konflikte entstehen oft da, wo Zuständigkeiten oder Rollen nicht oder mangelhaft geklärt sind. Wir denken, wir wüssten, wofür eine Bürokraft, der Putzdienst, Teamleiter, Einkäufer (als Beispiel für Rollen) zuständig sind. Wir erwarten, dass sie bestimmte Dinge tun, ohne das eindeutig mit ihnen vereinbart zu haben, und ärgern uns, wenn sie es nicht tun. – Das kann einen Betrieb viel Zeit und Geld kosten und belastet oft die Arbeitsatmosphäre. – In den Steuerungstreffen werden solche Konflikte und Spannungen für die Entwicklung und Optimierung der Betriebsstruktur genutzt.
Bestehende Zuständigkeiten und Rollen werden gemeinsam und präzise geklärt oder neue so geschaffen, dass alle für den Betrieb regelmäßig notwendigen Handlungen damit erfasst sind. Dies geschieht, bevor konkrete Personen diese annehmen oder diese ihnen vom Chef des Kreises (Leadlink), bei dem die Personal- und Budgetverantwortung liegt, zugewiesen werden oder im Team, bei gleichberechtigten Mitarbeitern bzw. Partnern.
Dynamische Steuerung
Wichtige Steuerungsentscheidungen werden in jedem Kreis mit „Integrativer Entscheidungsfindung“ getroffen, einer Entscheidungsart, bei der die Stimmen aller Beteiligten auf eine sachbezogene Weise einbezogen werden. Sie ist ausgerichtet auf brauchbare und korrigierbare, nicht auf optimale und grundsätzliche Entscheidungen.
Entscheidungen sind jederzeit änderbar, wenn sie sich in der Praxis nicht bewähren. In diesem Fall kann jeder einen neuen Vorschlag einbringen. Das erleichtert die Entscheidungsfindung: Nicht die perfekte Lösung wird gesucht, sondern eine brauchbare, und nicht für immer, sondern für jetzt mit den aktuell zur Verfügung stehenden Informationen.
Die permanente Beobachtung der Praxis während des Prozesses lässt die Details erkennen, die das Vorausdenken nicht erfassen konnte.
Kritik an Holokratie
Häufige Probleme in holokratischen Organisationen sind die Gehaltsstrukturen sowie die Karrieremöglichkeiten.[8] Oft bildet sich eine informelle Hierarchie heraus, die dem klassischen Modell recht nahe kommt.[9] Zudem kann die Reporting-Struktur bei börsennotierten Unternehmen nicht einfach weggelassen werden, somit müssen diese auch als holokratische Organisation Reporting-Positionen installieren.[10]
Ein weiterer Kritikpunkt ist das lange Regelwerk (Verfassung), das mühsam zu verinnerlichen ist.[11] Zudem ist der Schritt in holokratische Organisationsformen meist mit hohen Kosten für Berater und Software verbunden.[12]
Holokratie in der Praxis
Holokratie wurde von verschiedenen Firmen und Nonprofit-Organisationen weltweit implementiert,[13] beispielsweise von der Umweltbewegung Extinction Rebellion.[14] Beispiele aus Deutschland sind mymuesli, Mein Grundeinkommen e.V.,[15] Soulbottles,[16] Puls (Jugendkanal)[17] und Zappos.[18] Beispielunternehmen aus der Schweiz sind Freitag,[19] Liip,[20] Intersim,[21] MySign[22] und die schweizerische Post.[23] Beispielunternehmen aus Österreich ist Ontec.[24]
Siehe auch
Literatur
- Frederic Laloux: Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Vahlen, München 2015, ISBN 978-3-8006-4913-6 (englisch: Reinventing Organizations: A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage in Human Consciousness).
- Brian J. Robertson: Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, Vahlen, München 2016, ISBN 978-3-8006-5087-3 (englisch: Holacracy: The Revolutionary Management System that Abolishes Hierarchy).
- Dennis Wittrock: Holacracy: Jenseits von Autokratie und der ‚Tyrannei des Konsens‘ – Ein Paradigmenwechsel für Organisation im 21. Jahrhundert, in: Jens Hollmann, Katharina Daniels (Hrsg.): Anders wirtschaften. Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie, 2. Aufl., Springer Gabler, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-09857-5, S. 99-136.
- Rüdiger Goyk, Sven Grote: Holakratie – Ein neuer Stern am Himmel der Organisationsentwicklung?, in: Rüdiger Goyk, Sven Grote (Hrsg.): Führungsinstrumente aus dem Silicon Valley. Konzepte und Kompetenzen, Springer Gabler, Wiesbaden 2018, ISBN 978-3-662-54884-4, S. 79-97.
- Nicole Bischof: Self-Leadership in selbstorganisierten Systemen am Beispiel Holacracy, in: Christoph Negri (Hrsg.): Führen in der Arbeitswelt 4.0, ISBN 978-3-662-58410-1, Springer Gabler, Wiesbaden 2019, S. 63-72.
Weblinks
- holacracy.org (englisch)
- kreacom.org: Einführung kurz (PDF, 68,7 kB) bzw. ausführlich (PDF, 484,6 kB)
- Juliane Martina Röll, structureprocess.com: Holacracy: Ein Ansatz für Klarheit und effektive Zusammenarbeit in Teams und Organisationen
Einzelnachweise
- Holokratie-Verfassung auf der Webseite von Holacracy One
- deutsche Übersetzung von dwarfs and giants, 2015
- holacracy.org: Article I: Energizing Roles (4. Februar 2017)
- holacracy.org: Article II: Circle Structure (4. Februar 2017)
- holacracy.org: Article III: Governance Process (4. Februar 2017)
- holacracy.org: Article IV: Operational Process (4. Februar 2017)
- holacracy.org: Article V (4. Februar 2017)
- Johanna Ebeling: Die Wahrheit über Holacracy | Johanna Ebeling | tbd.community. Abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Freiheit nach Konzept: Wie die Management-Methode Holacracy funktioniert | t3n – digital pioneers. Abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Holacracy: Die Hierarchie der Kreise. 5. September 2019, abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Copyright Haufe-Lexware GmbH & Co KG- all rights reserved: Holacracy: Die holokratische Organisation. Abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Nora Heer: Agiles Management: Was kann das Management-System Holacracy wirklich? 8. Juni 2018 (welt.de [abgerufen am 4. Oktober 2019]).
- Who is using Holacracy?. structureprocess.com, abgerufen am 15. Juni 2019
- How the anarchists of Extinction Rebellion got so well organised. In: The Economist. 10. Oktober 2019, ISSN 0013-0613 (englisch, economist.com [abgerufen am 6. November 2019]).
- Mein Grundeinkommen e.V.: Starterkit / Checklist. (PDF) Abgerufen am 24. Juli 2017: „As an organization we are structured based on the principles of holacracy“
- Cheflos arbeiten durchs ganze Jahr Deutschlandfunk, 28. Dezember 2015.
- Fumiko Lipp: Unser Weg zu Holokratie und Empowerment. In: BR Next. Bayerischer Rundfunk, 4. März 2021, abgerufen am 30. Juni 2021.
- https://www.zapposinsights.com/about/holacracy
- Holokratie heisst nicht Demokratie im Unternehmen. Abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Holokratie statt Hierarchie – Was, wenn es keine Chefs mehr gäbe? In: Srf.ch. 1. Mai 2017, abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Bei diesen 8 Schweizer Firmen gibt es keinen Chef. In: Jobs.ch. 6. November 2019, abgerufen am 1. Dezember 2020.
- Wenn das Unternehmen ohne Chef läuft. In: Oltner Tagblatt. Abgerufen am 4. Oktober 2019.
- Holacracy bei der Post. In: liip.ch. Abgerufen am 25. Juli 2019.
- Es „braucht keine Bosse“. In: Horizont.at. Abgerufen am 2. Juni 2021.