Heiratsengpass
Von einem Heiratsengpass (englisch marriage squeeze) wird in der Demografie gesprochen, wenn in einer monogamen Gesellschaft die Zahl der heiratsfähigen/heiratswilligen Männer und Frauen erheblich differiert.[1] Schon in den 1980er Jahren wurde sein Einfluss auf das Geschlechterverhältnis diskutiert.[2] Nathan Keyfitz hat das Thema mit den Methoden der mathematischen Demografie behandelt.[3] In Europa gab es im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen Heiratsengpass für Frauen, und in vielen Ländern in Lateinamerika, Afrika und Südasien gibt es ihn noch heute. In Europa und in der Volksrepublik China gibt es heute einen Heiratsengpass für Männer. Der Grund dafür ist jedoch in China ein anderer als in Europa.
Ursachen
Als einzige Ursachen werden oft Unterschiede in der Geburtenzahl und in der Sterblichkeit genannt. Es werden etwa 6 % mehr Knaben als Mädchen geboren, aber dem steht eine höhere Sterblichkeit der Knaben gegenüber, sodass es im heiratsfähigen Alter in einer geschlossenen und von äußeren Einflüssen (Krieg) ungestörten Bevölkerung in jeder Altersgruppe etwa gleichviel Männer und Frauen gibt. Eine höhere Sterblichkeit der erwachsenen Männer, wie sie durch Kriege und Bürgerkriege, aber auch durch die Tätigkeit von Männern in gefährlichen Berufen verursacht wird, hat immer einen Heiratsengpass für Frauen zur Folge. Eine andere Ursache, die oft übersehen wird, hängt damit zusammen, dass bei der Erstheirat das Durchschnittsalter der Frauen tiefer liegt als das der Männer (Heiratsalter). Je nachdem ob die Bevölkerung wächst oder schrumpft, hat die Differenz im Heiratsalter einen Heiratsengpasse für Frauen beziehungsweise für Männer zur Folge.[4]
Wenn eine Bevölkerung jahrzehntelang kontinuierlich gewachsen ist, dann hat die Geschlechts- und Altersverteilung die typische Form einer Pyramide (Altersverteilung). Je schneller die Bevölkerung wächst, desto stärker verjüngt sich die Pyramide nach oben. Bei einer Wachstumsrate von 2 % ist die Zahl der n-Jährigen beider Geschlechter um 2 % größer als die Zahl der (n+1)-Jährigen. Zusammen mit dem tieferen Heiratsalter der Frauen führt dies zu einem Heiratsengpass für Frauen.[5]
Durch die Einführung der Antibabypille ist in vielen Ländern Europas seit den 1960er Jahren die Geburtenzahl stark zurückgegangen. In der Schweiz fiel sie von rund 112'000 im Jahr 1965 auf 72'000 im Jahr 1979. Da die Frauen im Mittel immer noch ca. zwei Jahre früher heiraten als die Männer, führte dies später zu einem starken Heiratsengpass für Männer. Viele Schweizer Männer, die im Inland keine Frau finden konnten, suchten und fanden sie im Ausland. Im Jahr 2005 zum Beispiel haben 28'764 Schweizer Männer geheiratet, aber nur 26'958 Schweizer Frauen.[6]
Statistische Daten
Ein Heiratsengpass für Frauen hat zufolge, dass viele Frauen zeitlebens ledig bleiben oder in erster Ehe einen verwitweten oder geschiedenen Mann heiraten. Witwen und geschiedene Frauen haben dann nur eine geringe Chance, einen neuen Partner zu finden. Einschlägige Daten für das Deutsche Reich, die vom Statistischen Reichsamt publiziert wurden, findet man bei August Bebel.[7]
Danach gab es im Jahr 1900 im Deutschen Reich 152 659 Witwen, aber nur 46 931 Witwer sowie 21 901 geschiedene Frauen und nur 8 590 geschiedene Männer im Alter bis 40.
Für die Zeit nach 1950 gibt es demographische Daten aus fast allen Ländern in den Demographischen Jahrbüchern der UNO. Ein Vergleich zwischen europäischen Ländern und Ländern in Lateinamerika mit schnell wachsender Bevölkerung zeigt, dass es nur in diesen in den 1980er Jahren immer noch einen Heiratsengpass für Frauen gab (Tab. 1).
Bolivien | Guatemala | BRD | CSSR | |
---|---|---|---|---|
Frauen | 11 300 | 16 475 | 189 443 | 59 580 |
Männer | 3 700 | 3 958 | 152 237 | 51 583 |
Quotient | 3,1 | 4,2 | 1,24 | 1,16 |
Den europäischen Ländern mit einem Heiratsengpass für Männer stehen heute noch viele Länder mit einem Heiratsengpass für Frauen gegenüber. Dies sind Länder mit wachsender Bevölkerung in Lateinamerika, Afrika und Südasien. Durch den intensiven Reiseverkehr vor der Covid-19-Pandemie konnten viele Männer aus Europa Frauen aus diesen Ländern kennen lernen und heiraten. Die Tabelle 2 zeigt dieses Phänomen am Beispiel der Schweiz.
Wachstums-
rate[9] |
Heiraten zwischen
Schweizern und Frauen aus |
Heiraten zwischen
Schweizerinnen und Männern aus | |||
---|---|---|---|---|---|
1,9 | Äthiopien | 33 | 15 | Äthiopien | |
1,5 | Elfenbeinküste | 34 | 22 | Elfenbeinküste | |
1,8 | Kamerun | 146 | 44 | Kamerun | |
1,1 | Marokko | 218 | 119 | Marokko | |
1,9 | Bolivien | 35 | 11 | Bolivien | |
1,4 | Brasilien | 654 | 81 | Brasilien | |
1,1 | Chile | 40 | 33 | Chile | |
1,5 | Dom. Rep. | 177 | 59 | Dom. Rep. | |
1,6 | Kolumbien | 109 | 36 | Kolumbien | |
0,2 | Kuba | 51 | 55 | Kuba | |
1,5 | Mexico | 69 | 32 | Mexico | |
1,5 | Perú | 105 | 38 | Perú | |
1,8 | Philippinen | 132 | 9 | Philippinen | |
0,9 | Thailand | 573 | 20 | Thailand |
Man sieht, dass mit Ausnahme von Kuba die Zahl der Männer, die eine interkulturelle Ehe eingehen, immer größer ist als die entsprechende Zahl der Frauen, und im Fall von Brasilien, Thailand und den Philippinen übertrifft sie diese um einen Faktor größer als acht.
Folgen
Solange ledige Frauen nur wenige Berufe ausüben durften und in der Gesellschaft schlechter gestellt waren als Ehefrauen, drängten die jungen Frauen zur Heirat. Weil die meisten eine ältere Frau kannten, die ledig geblieben war, hatten sie Angst, die Gelegenheit zu verpassen und „sitzen zu bleiben“. Der Heiratsengpass hat deshalb die Tendenz der Frauen zur Frühheirat und zur Anpassung an das patriarchalische Wertesystem verstärkt. Es gab demnach einen demografischen Widerspruch, der sich so ausdrücken lässt:
Die große Zahl von älteren ledigen Frauen im 19. Jahrhundert war ein Reservoir von Arbeitskräften, die in der Pflege von Alten und Kranken eingesetzt werden konnten.
Belege in der Belletristik
In dem realistischen Roman Effi Briest von Theodor Fontane hält der 38-jährige Instetten um die Hand der 17-jährigen Effi Briest an, und ohne sich lange zu besinnen, gibt Effi ihm das Jawort. Danach beeilt sie sich, es ihrer Freundin zu sagen, und denkt dabei: nun bin ich ihr doch zuvorgekommen. Es gab also einen regelrechten Wettlauf mit dem ersehnten Ziel der Heirat. Die Ursache für dieses Verhalten war ein erheblicher Heiratsengpass für Frauen, der seinerseits durch das Bevölkerungswachstum und den großen Unterschied im Heiratsalter bedingt war.
In Lateinamerika war es ähnlich. In dem Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ des kolumbianischen Autors Gabriel García Márquez, der auch im späten 19. Jahrhundert spielt, heißt es: „Für die Frauen gab es nur zwei Altersstufen: das heiratsfähige Alter, das höchstens bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr ging, und das Alter der ewigen Jungfern für die Sitzengebliebenen“.
Literatur
- Donald S. Akers: On Measuring the Marriage Squeeze, in: Demography, 4 (2) 1967, p. 907–924. doi:10.2307/2060328. ISSN 0070-3370.
- Youhua Chen: Engpässe aufgrund ungleicher Sexualproportion auf den Heiratsmärkten Chinas und der Europäischen Union, insbesondere Deutschlands, Dissertation an der Philipps-Universität Marburg, 2001. (PDF bei der DNB)
- Christophe Z. Guilmoto: Skewed Sex Ratios at Birth and Future Marriage Squeeze in China and India, 2005-2100, in: Demography, 49 (1) 2012, p. 77–100. doi:10.1007/s13524-011-0083-7. ISSN 0070-3370.
- Helmut Knolle: Papagenos Wunsch und die Mathematik, in: Elemente der Mathematik, Band 72, 2017, S. 122-125, doi:10.4171/EM/334 (frei zugängliche Version)
Einzelnachweise
- Donald S. Akers: On measuring the marriage squeeze. In: Demography. 1967, S. 907–924.
- David M. Heer and Amyra Grossbard-Shechtman: The impact of the female marriage squeeze and contraceptive revolution on sex roles and the womens's liberation movement in the United States 1960 to 1975. In: Journal of Marriage and The Family. Band 43, 1981, S. 49–65.
- Nathan Keyfitz: The mathematics of sex and marriage. In: Proceedings Berkeley Symposium on Mathematical Statistics and Probability. Band 6, 1972, S. 49–65.
- Helmut Knolle: Papagenos Wunsch und die Mathematik. In: Elemente der Mathematik. Band 72, 2017, S. 122–125, doi:10.4171/EM/334.
- Marcia Guttentag and Paul F. Secord: Too many women? The sex ratio question. Sage Publications, 1983.
- Bundesamt für Statistik: Heiraten nach gegenseitiger Staatsangehörigkeit vor der Heirat, 1987-2019 | Tabelle. 25. Juni 2020, abgerufen am 2. Februar 2021.
- August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. 50. Auflage. 1913, S. 161–162.
- United Nations: Demographic Yearbook 1990, Table 41, Population by age, gender and marital status. 1992.
- nach Fischer Weltalmanach 2007