Gratian (Kirchenrechtler)
Gratian, auch Magister Gratianus oder Gratianus de Clusio,[1] (* in Chiusi Ende 11. Jahrhundert; † vor 1160 in Bologna) gilt als Vater des Kirchenrechts. Er ist der Autor des um 1140 verfassten Decretum Gratiani, der einflussreichsten Sammlung des mittelalterlichen Kirchenrechts.
Leben
Über Gratians Leben finden sich nur spärliche und zum Teil auch widersprüchliche Angaben. Sein Geburts- und Todesjahr sind nicht bekannt.
Als seine Vornamen werden gemeinhin die Namen Johannes oder Franziskus genannt. Diese Namenszuschreibungen lassen sich jedoch vermutlich auf Fehlinterpretationen und Verwechslungen zurückführen. So trug der in den Jahren 1045 und 1046 regierende Papst Gregor VI. vor seiner Papstwahl den Namen Johannes Gratianus. Dieser Umstand lässt eine Verwechslung naheliegend erscheinen. Der Name Franziskus wird lediglich vom Kürzel „F.“ bzw. „Fr.“ abgeleitet, das aufgrund Gratians Ordenszugehörigkeit jedoch auch als „Frater“ interpretiert werden könnte.
Spärliche und widersprüchliche Informationen finden sich auch zum Stand Gratians. So wird er als Kardinal, als Kamaldulensermönch und als Bischof von Chiusi bezeichnet.
Die Zuschreibung Gratians als Kardinal ist vermutlich auf eine Verwechslung mit dem Glossator Gratianus Cardinalis, einem Dekretisten des Dekretum Gratiani und Professors des kanonischen Rechts in Bologna zurückzuführen. Dieser wurde 1178 zum Kardinaldiakon ernannt und starb im Jahr 1197.
Die Behauptung Gratian sei Angehöriger des Kamaldulenserordens gewesen geht höchstwahrscheinlich auf den Kamaldulenserabt Mauro Sarti zurück. Sarti übernahm diese These in sein biografisches Werk über Gratian auf und sorgte so für ihre Verbreitung. Belegen lässt sie sich jedoch nicht. Das Kloster St. Felix in Bologna, in dem Gratian lebte und lehrte, war vermutlich dem Benediktinerorden zugehörig und wird in keinen zeitgenössischen Quellen als Kamaldulenserkloster bezeichnet.
Die letztlich verbleibende These, Gratian sei Bischof von Chiusi gewesen, stammt vom Abt des französischen Klosters Mont-Saint-Michel, Robert von Torigny. Dieser hält in seiner Chronik für das Jahr 1130 fest: „Gratianus episcopus Clusinus coadunavit decreta valde utilia …“. Ob Gratian jedoch tatsächlich Bischof von Chiusi war, lässt sich anhand der Bischofslisten nicht nachweisen, da diese für das 12. Jahrhundert Lücken aufweisen.
Werke
Gratian sammelte das verstreute kirchliche Rechtsmaterial und systematisierte es in seinem Werk Concordia discordantium canonum, das in der nachfolgenden Zeit kurz Decretum Gratiani genannt wurde. Als grundlegendes Werk der kirchlichen Rechtswissenschaft (Kanonistik) entfaltete es eine weitreichende Wirkungsgeschichte und machte seinen Verfasser Gratian zu einer zentralen Figur der mittelalterlichen Geistesgeschichte.
- Decretum : mit Kommentar von Johannes Teutonicus und Bartholomaeus Brixiensis. Strassburg 1490 (Digitalisat)
Literatur
- Friedrich Wilhelm Bautz: Gratian. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 2, Bautz, Hamm 1990, ISBN 3-88309-032-8, Sp. 288–289.
- Kerstin A. Jacobi: Der Ehetraktat des Magisters Rolandus von Bologna. Redaktionsgeschichtliche Untersuchung und Edition (= Schriften zur Mediävistik 3) Hamburg 2004 ISBN 3-8300-1193-8.
- Peter Landau: Gratian (von Bologna). In: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S. 124–130 (Überblick mit weiterer Lit.)
- Anders Winroth, The Making of Gratian’s Decretum, Cambridge 2000.
- Hartmut Zapp: Gratian. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 4. Artemis & Winkler, München/Zürich 1989, ISBN 3-7608-8904-2, Sp. 1658.
- Art. Gratian, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 2, Verlag Traugott Bautz GmbH, Nordhausen, 288–289.
- Stephan Haering: Gratian und das Kirchenrecht in der mittelalterlichen Theologie, in: Münchener theologische Zeitschrift 57, 1, München 2006, 21–34.
- Stephan Kuttner: Repetorium der Kanonistik (1140–1234). Prodromus corporis glossarum I, in: Studi e Testi 71, Citta del Vaticano: Bibliotheca Apostolica Vaticana 1937.
- Peter Landau: Art. Gratian, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Bd. 3, Verlag Mohr Siebeck, Heidelberg, 1251.
- Christoph Link: Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2010.
- Rudolph Sohm: Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, Darmstadt 1967.
- Rudolf Weigand: Art. Gratian, in: Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Bd. 4, Verlag Herder, Freiburg, 988.
- Jean Werckmeister: Wer war eigentlich Gratian?, in: Iustitia in caritate. Festgabe für Ernst Rößler zum 25jährigen Dienstjubiläum als Offizial der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hg. von Richard Puza; Andreas Weiß, Adnotations in ius canonicum 3, Frankfurt am Main, Berlin 1997, 183–192.
Weblinks
- Literatur von und über Gratian im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Gratianus magister im Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“
- Domus Gratiani – Homepage for Gratian Studies
- Digitalisierte Handschriften in Schweizer Bibliotheken
- Werke von Gratian (Kirchenrechtler) im Gesamtkatalog der Wiegendrucke