Ethno-Musiktherapie
Ethnomusiktherapie (auch altorientalische Musiktherapie) hat ihren Ursprung in der antiken griechischen Lehre, die davon ausgeht, dass Musik eine reinigende Wirkung auf die Seele, die Affekte und den Charakter des Menschen besitzt.
Der Mensch wird als physisch-seelisch-geistige Einheit gesehen. Erst wenn sich Körper, Geist und Seele im Einklang befinden, können psychische und physische Beschwerden verarbeitet und somit beseitigt werden.
Ziel der Ethnomusiktherapie ist es, die Persönlichkeit zu stärken, indem eine Beziehung zwischen der Umwelt und der psychischen, inneren Welt hergestellt wird.
Geschichte
„Der Körper ist krank, wenn die Seele geschwächt ist, und er ist beeinträchtigt, wenn sie beeinträchtigt ist. Daher geschieht die Heilung des Körpers durch die Heilung der Seele, indem ihre Kräfte wiederhergestellt und ihre Substanz in die rechte Ordnung gebracht wird mit Hilfe von Klängen, die dies bewirken können und dafür geeignet sind.“ – Al Farabi (870–950 n. Chr.)
Die Musiktherapie im vorderen Orient ist ein seit ca. 1000 Jahren dokumentiertes System mit – aus heutiger Sicht – therapeutischer, prophylaktischer und rehabilitativer Bedeutung. Ihre Wurzeln gründen in der antiken griechischen Lehre vom „Ethos“ in der Musik. Diese ging davon aus, dass von der Musik selbst eine „unmittelbare und reinigende Wirkung“ auf Seele, Affekte und Charakter des Menschen ausgehe.
Im Vorderen Orient wurde dieser – bei Platon, Aristoteles und den späteren Neuplatonikern – noch wenig konkretisierte „musiktherapeutische“ Gedanke aufgegriffen, und praktisch weiter ausdifferenziert. Aus heutiger Sicht ist auch Augustinus als philosophisch, religiös-geistiges und kulturelles Bindeglied zwischen Orient und Okzident zu nennen.
Im Orient entwickelte sich ein neues Tonsystem – das „Makamsystem“. Islamische Gelehrte wie etwa Al‑Kindi, Al‑Farabi, Al‑Rhasi, Avicenna, u. a. verknüpften die Anwendung dieses Musiksystems sowohl mit der Vorstellung eines engen Wechselspiels zwischen seelischen und körperlichen Prozessen, als auch mit dem Konzept der Humoralpathologie – der Vier-Säfte-Lehre. Nunmehr wurden „[…] bestimmte Melodientypen, Rhythmen und sogar die vier Saiten der Laute mit bestimmten Körpersäften, Affekten, Primärqualitäten, Kardinaltugenden, Jahres‑ & Tageszeiten, Gestirnkonstellationen usw. in direkte Beziehung gesetzt und in vielfältigen Verknüpfungen zu ganzen Systemen zusammengefügt.“ (Kümmel 1977)[1]
Auf diesen Grundlagen stand Musiktherapie ab dem 9. Jh. in den Spitälern des vorderen Orients im Rang einer regulären medizinischen Hilfsdisziplin. Musik als hörbare musikalische Umsetzung des kosmischen Klanges, nährte sowohl die „Geistseele“ wie auch den „materiellen Leib“. Ganz im Sinne einer „Affektenlehre“ entfaltete sie beim Hörer sowohl im „Vorderen Orient“ wie auch im Okzident ihre emotionalisierende Wirkung durch die jeweils geläufigen Musikstile, Melodien und Gattungen. Mit dem konzeptionellen Wechsel der Medizin von der Humoralpathologie zur Biomedizin verlor das historische Konzept der Musiktherapie im Orient für etwa 150 Jahre seine theoretischen Grundlagen und geriet auch praktisch in Vergessenheit.
In den 1980er Jahren griff in der Türkei der Psychologe, Musiker und Sufilehrer Oruc Güvenc dieses alte musiktherapeutische Lehrsystem erstmals wieder anhand historischer Quellen praktisch auf. Gemeinsam mit dem späteren Kulturwissenschaftler, Kultur‑ & Sozialanthropologen und Musiktherapeuten Gerhard Tucek wurden seit 1986 auch in Europa in Form von Kursen erste Schritte zu einer praktischen Wiederbelebung unternommen.
Therapiekonzept und Wirkungsweise
Der therapeutische Effekt der Ethnomusktherapie begründet sich auf einer auch wissenschaftlich darstellbaren Restrukturierung psycho-biologischer Ordnungsstrukturen im menschlichen Organismus. So zeigen etwa molekularbiologische Erkenntnisse den Zusammenhang zwischen der Aktivierung von Selbstheilungskräften und dem vagototonen Regulationszustand (Entspannung) des autonomen Nervensystems. Ein derartiger Regulationszustand kann mittels individuell bedeutungsvoll erlebter musikalischer Inhalte und Ausdrucksformen im Rahmen einer therapeutischen Beziehung hervorgerufen und unterstützt werden.
Methodisch kommen hierfür der wechselseitige musikalische Dialog zwischen Patient und Therapeut, die „regulationsmedizinische“ Wirkung einer vom Therapeuten live gespielten Musik sowie therapeutische Bewegungs‑ und Tanzübungen zur Anwendung.
Menschenbild
Ethnomusiktherapie begreift den Menschen als physisch-geistig-mentale Einheit. Ähnlich wie die heutige Verhaltens- therapie die „gesunden“ Persönlichkeitsanteile therapeutisch in den Mittelpunkt rückt, stellt Ethnomusiktherapie das Bild des „heilen Menschen“ in ihr Zentrum: die Entfaltung der Person zur ihr wesenhaft zugrunde liegenden Essenz.
Sie fördert die Hinwendung des einzelnen Menschen in sinnhafter Offenheit zur Außen-, Innen- und transzendenten Welt, sein individuelles „Heilsein“ (seine „Ganzheit“) zu entwickeln. Dieser Erkenntnisprozess ist seinem Wesen nach offen und zieht keine scharfen Trennlinien zwischen physischen, psychischen und spirituellen Seinsdimensionen. Therapie zielt hier innerhalb ihres medizinischen Auftragsprofils wesentlich darauf ab, den Patienten zur Umsetzung von Lebensprinzipien als Konkretion eines höheren Ordnungsprinzips zu bewegen („e-movere“).
Dies erklärt den therapeutischen Ansatz, durch die Stärkung der Geistigkeit des Menschen auch seine seelische und körperliche Natur zu kräftigen. Ein nach heutigen Kriterien effizientes therapeutisches Vorgehen verlangt vom Musiktherapeuten fundierte theoretische wie praktische ethnologische und kulturanthropologische Kenntnisse, sowie Kenntnisse in Musikwissenschaft, Musikpsychologie, Humanpathologie und westlicher Therapiemethodik. Das Konzept der Ethnomusiktherapie macht sich darüber hinaus die im Menschen grundgelegte Fähigkeit zu intuitivem Erkennen und Handeln nutzbar.
Therapieziele
Als übergeordnete Therapieziele lassen sich drei Grundanliegen formulieren:
- Das Ansinnen, dem Patienten im therapeutischen Prozess dabei zu unterstützen, ein stimmiges Zusammenspiel zwischen einem (nach außen gewandten soziokulturellen) Entwurf gelingender Lebensgestaltung und innerer subjektiver Stimmigkeit (wieder)herzustellen.
- Eine Flexibilisierung und Ausbalancierung vegetativer Rhythmen (Sympathikus und Parasympathikus / Vagotonus) des Patienten, mittels musik‑ bzw. bewegungsinduzierter Aktivierung bzw. Entspannung. Studien (u. a. Tracy 2002) zeigten den Zusammenhang zwischen Stress(reduktion) und Selbstheilungskräften.
- Die aus einer liebenden Haltung (im Sinne von „Agape“ im Gegensatz zu „Eros“) des Therapeuten entspringende glaubhafte Vermittlung mitmenschlicher Anteilnahme am Schicksal und therapeutischen Weg des Patienten. Dies führt zur Erfahrung von Verbundenheit und Wertschätzung, die sich im Vegetativum vielfach als Entspannung abbildet.
Methodik
Es kann unterschieden werden zwischen der aktiven und der rezeptiven Form der Ethnomusiktherapie. Beiden liegt ein nicht konfliktorientiertes Konzept zugrunde, das auf dem Prinzip des körperlichen und seelischen Ausgleichs beruht.
Grundlagen der rezeptiven Ethnomusiktherapie
Die historische Grundlage der Wirktheorie der rezeptiven Ethnomusiktherapie die „Ethoslehre“ in der Musik: Ihr Grundgedanke in der Musik ist die Theorie einer engen, auf dem Prinzip von Bewegung beruhenden Wechselbeziehung zwischen Klang und Rhythmus einerseits und dem menschlichen Gemütsleben andererseits. Ihr Kernsatz lautet: „Die hörbare Bewegung vermag die Bewegung der Seele nicht nur darzustellen und widerzuspiegeln, sondern auch zu erzeugen“ (nach H. Albert (L 1899) in: Kümmel 1977).[2] Auffallend ist hier die Beziehung zur Idee der heilenden Potenz von Musik wie sie Platon in seinem naturwissenschaftlichen Werk Timaios vertritt – ein Ansatz, der sich bis ins 20. Jahrhundert zieht: das naturgesetzhaft ontische (also auch humane) Ordnungsprinzip, in Klangform Gestalt.
Die methodische Ausrichtung ist „allopathisch“ konzeptioniert, folgt also dem Prinzip des physiologischen und seelischen Ausgleichs von Defiziten oder Überschüssen durch Harmonisierung und Stärkung. Dieses Phänomen findet heute seine methodologische Antwort in Akupunktursystemen, Biophoton-Konzepten und letztlich sogar in pharmakologisch orientierten psychiatrischen Schulen, die zwischen stimulierenden, sedierenden und psychisch ordnenden Medikamenten unterscheidet. Ethnomusiktherapie liegt ein in sich konsistenter, nicht konfliktorientierter, sondern, ähnlich den Paradigmen von Homöostase und Equilibration in der Psychosomatik, auf dem Prinzip des Ausgleichs beruhender Behandlungsplan zugrunde. Sie begreift dabei Musik als Bindeglied zwischen physiologischem und psychischem Geschehen im Menschen. Das Altorientalische Behandlungskonzept beinhaltet gleichermaßen therapeutische, prophylaktische wie auch posttherapeutische Aspekte.
Der therapeutische Effekt beruht auf einer Abfolge bestimmter Modi und Melodien (Makamen). Ihr strukturell-intuitiver Weg unterscheidet sich dabei wesentlich von Musikstück-Sequenz-Plänen westlicher Musiktherapien, die einen mehr analog-heuristischen Ansatz vertreten. Makamen sind neuntönig (d. h. dass ein Ganzton in neun Teiltonschritte geteilt wird) mikrotonal ausgerichtete Tonskalen, die mit spezifischen Klangstrukturen auf einem bestimmten Grundton aufbauen und somit nicht beliebig transponierbar sind. Von den heute 375 namentlich bekannten Makamen sind gegenwärtig noch etwa 50 Makamen tatsächlich in Verwendung.
Das Konzept der aktiven Ethnomusiktherapie
Das Konzept der aktiven Ethnomusiktherapie, im modernen westlichen Sprachgebrauch als „Bewegungs(bewusstseins)therapie“ beschreibbar, besteht aus einer Abfolge zunächst festgelegter Bewegungselemente, die später improvisatorisch vom Patienten erweitert werden (Tucek 2000). Therapeutische Bewegungen haben dabei nicht nur funktionalen Charakter, wie etwa physiotherapeutisch-rehabilitative Bewegungsübungen, sondern sind darüber hinaus auch Träger und Vermittler universeller geistiger Prinzipien.
Einzelnachweise
- Zitiert nach Werner F. Kümmel: Musik und Medizin – Ihre Wechselbeziehung in Theorie und Praxis von 800 bis 1800. Verlag Karl Alber, Freiburg 1977
- Werner F. Kümmel: Musik und Medizin – Ihre Wechselbeziehung in Theorie und Praxis von 800 bis 1800. Verlag Karl Alber, Freiburg 1977
Literatur
- Werner F. Kümmel: Musik und Medizin – Ihre Wechselbeziehung in Theorie und Praxis von 800 bis 1800. Verlag Karl Alber, Freiburg 1977
- H. Pfrogner: Lebendige Tonwelt. Zum Phänomen Musik. 2. Auflage, Verlag Langen-Mueller, München 1981
- G. Tucek: Kulturanthropologische Überlegungen zur Ethno-Musiktherapie in Österreich. in: MuG Musik und Gesundsein 19/2011, S. 21–27, Reichert Verlag, 2011
- G. Tucek, E. Ferstl, F. M. Fritz: A study of synchronization behaviour in a group of test persons during Baksy and Dhikr exercises via psycho-physiological monitoring. In: Music that works. Hrsg. R. Haas, V. Brandes, S. 267–294, Springer, Wien New York 2009
- G. Tucek: Ausgewählte Aspekte des Kulturtransfers. Ethno-Musik-Therapie im Wandel., in: Die Maske. Zeitschrift für Kultur‑ und Sozialanthropologie Nr. 1, Juni 2007, S. 39–42