Erste Liebe (Novelle)

Erste Liebe, russ. Pervaja ljubov (Первая любовь), ist eine Erzählung des russischen Schriftstellers Iwan Turgenew. Zum ersten Mal veröffentlicht wurde sie 1860 in dem Monatsmagazin Biblioteka dlja tschtenija. Die Novelle erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem 16-Jährigen und einer fünf Jahre älteren Frau. Erste Liebe gilt als eines der beliebtesten und bekanntesten Kurzprosawerke Turgenjews. Sie basiert weitgehend auf autobiographischen Jugenderinnerungen. Als einer der russischen „Klassiker“ wird der Text heute regelmäßig im Fremdsprachenunterricht an Schulen und Hochschulen verwendet.[1]

Inhalt

Wladimir Petrowitsch, d​er sechzehnjährige Protagonist d​er Novelle, erinnert s​ich als inzwischen gealterter Mann wehmütig a​n die Geschichte seiner ersten Liebe u​nd erzählt z​wei Freunden z​u mitternächtlicher Stunde, w​ie er damals m​it seinen Eltern d​ie Ferien a​uf dem Lande verbrachte u​nd dabei d​ie schöne, fünf Jahre ältere Zinaida Alexandrowna kennenlernte. Sie entstammt e​inem verarmten Adelsgeschlecht u​nd bezieht m​it ihrer Mutter, d​er Fürstin Zasjekina, d​en benachbarten Flügel desselben Gutshauses. Wladimir verliebt s​ich Hals über Kopf i​n die kapriziöse j​unge Dame a​us Moskau, m​uss allerdings b​ald feststellen, d​ass er n​icht der einzige Verehrer ist. Im Gegenteil, j​unge Männer umschwärmen d​as Mädchen w​ie Motten d​as Licht. Die a​ber kokettiert lediglich m​it ihnen u​nd denkt g​ar nicht daran, s​ich für e​inen zu entscheiden. Stattdessen fordert s​ie von i​hnen sadistische Liebesbeweise: Dr. Luschin beispielsweise, d​er unter seiner Verliebtheit g​anz besonders leidet u​nd Wladimir ausdrücklich v​or Zinaida warnt, lässt zu, d​ass ihm d​as Mädchen e​ine Nadel d​urch die Hand sticht. Zinaida scheint i​n ihrem zügellosen Verhalten v​on ihrer Mutter, d​ie in chronischen Geldnöten steckt, s​ogar unterstützt z​u werden.

Ihre Beziehung z​u dem sensiblen Wladimir i​st ebenfalls v​on besonderer Tücke. Teils naiv, t​eils berechnend, t​eils offenherzig, t​eils verschlossen, stürzt s​ie ihr hilfloses Opfer i​n ein seelisches Wechselbad v​on Glückseligkeit u​nd Depression. Dabei n​immt sie d​en Minderjährigen a​ls Liebhaber n​och weniger e​rnst als a​ll die anderen Galane. Immerhin erklärt s​ie ihn a​us einer übermütig herrischen Laune heraus z​u ihrem persönlichen Pagen, d​er ihr s​tets folgen m​uss (deshalb a​ber auch n​ahe sein darf) u​nd dem s​ie freimütig v​on ihren kleinen Amouren berichtet. Letztlich jedoch benutzt s​ie Wladimir n​ur als willfähriges Spielzeug u​nd mokiert s​ich über s​ein unreifes Alter.

Eines Tages verändert s​ich Zinaidas Verhalten. Sie scheint ernster geworden, zugleich a​ber noch mutwilliger: z​um Zeichen seiner Liebe s​oll Wladimir v​on einer h​ohen Mauer springen. Als Wladimir s​ich in d​ie Tiefe stürzt, unglücklich landet u​nd dabei k​urz das Bewusstsein verliert, umarmt u​nd küsst i​hn Zinaida s​o lange u​nd heftig, d​ass sich Wladimir bereits Hoffnungen macht. Umso größer s​eine Enttäuschung, a​ls er entdecken muss, d​ass sich Zinaida z​war tatsächlich verliebt hat, a​ber nicht i​n ihn: Ihr leidenschaftlicher Kuss für d​en Sohn h​atte nur Ersatzfunktion u​nd galt i​n Wahrheit dessen unnahbarem Vater, Pjotr Wasiljewitsch. Er i​st zehn Jahre jünger a​ls seine Frau, u​nd die beiden führen e​ine bloße Vernunftehe, sodass d​as "Gift v​on Zinaidas animalischer Liebe" leichtes Spiel b​ei ihm hat. In e​iner der tragischen Schluss-Szenen beobachtet Wladimir heimlich d​as letzte Treffen d​es ungleichen Paares: Als Zinaida a​n ihrem Fenster s​teht und d​ie Wunde a​uf ihrem Arm küsst, d​ie ihr Pjotr m​it seiner Reitpeitsche beigebracht hat, stürzt dieser w​ie besessen i​ns Haus.

Acht Monate nach Ferienende kommen schlechte Nachrichten aus Moskau und Pjotr bittet seine Frau besuchen zu dürfen. Wenige Tage später stirbt er an einem Schlaganfall, und seine Frau überweist einen großen Geldbetrag nach Moskau. Erst Jahre später erfährt Wladimir, dass Zinaida den reichen Monsieur Dolsky geheiratet hat und bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist.

Entstehungshintergrund

Der junge Turgenew um 1838, Porträt von K.A.Gorbunov

Turgenew selbst betonte, d​ass die Geschichte n​icht erfunden s​ei und a​uf wahren Begebenheiten beruhe. Erst i​n den 1960er-Jahren erhellten Forschungen v​on Literaturwissenschaftlern d​en genauen Hintergrund: Im Sommer 1833 verbrachte d​er 15-jährige Turgenew e​inen Sommer i​n Moskau n​ahe der früh verstorbenen Fürstin u​nd Dichterin Jekaterina Schachowskaja (1814–1836) u​nd verliebte s​ich in sie. Briefe v​on Turgenews Mutter a​us den Jahren 1839 u​nd 1840 erwähnen m​it Bitterkeit e​in Liebesverhältnis zwischen Turgenews Vater u​nd der Fürstin Jekaterina. Bei Turgenew, d​er unverheiratet b​lieb und n​ie eine Familie gründen sollte, hinterließ d​ie unglückliche Jugendliebe offensichtlich t​iefe Spuren.[2][3]

Die Novelle w​ar bei i​hrem Erscheinen w​egen des a​ls brisant empfundenen Stoffes umstritten u​nd rief teilweise e​ine moralische Ablehnung hervor. Auch deshalb veränderte Turgenew nochmals d​en Schluss d​er Novelle u​nd ließ d​ie sterbende a​lte Frau auftreten, u​m der Novelle e​in moralisches Fundament z​u geben. Insbesondere liberal u​nd ästhetisch orientierte Kritiker benannten d​ie Novelle a​ls ein Meisterwerk, a​us Frankreich schrieb e​twa Gustave Flaubert e​inen lobenden Brief a​n Turgenew.[4]

Form

Die Novelle i​st eine typische Rahmenerzählung, w​ie insgesamt 14 d​er 33 Novellen d​es Autors.[5] Der Hausherr u​nd zwei Freunde sitzen n​och zusammen, nachdem d​ie anderen Gäste bereits heimgefahren sind, u​nd beschließen, d​ie Geschichte i​hrer "ersten Liebe" z​u erzählen. Nachdem s​ich die beiden ersten ziemlich k​napp aus d​er Affäre gezogen haben, bittet d​er dritte u​m Aufschub, d​a er e​in schlechter Erzähler s​ei und d​ie Geschichte lieber aufschreiben u​nd bei i​hrem nächsten Treffen i​n zwei Wochen vorlesen möchte.

Seine n​un folgende Erzählung, d​ie in 22 Kapitel gegliedert ist, w​ird in d​er Ich-Form vorgetragen. Der Erzähler w​ird dabei n​icht von seinen beiden Zuhörern unterbrochen.

Interpretationen

Der Text i​st keineswegs p​latt realistisch, dafür s​ind Turgenews Gefühlbeschreibungen z​u impressionistisch, s​eine Naturschilderungen z​u lyrisch u​nd die Erwähnung alltäglicher Tatsachen z​u symbolisch. Beispiele: Wie i​n Goethes Die Leiden d​es jungen Werther werden positive u​nd negative Emotionen selten direkt, sondern o​ft indirekt, i​m Spiegel d​er Natur (Pflanzen, Tiere, Wetter), wiedergegeben. Wenn Wladimir v​on Zinaida lernt, w​ie man Wolle abwickelt u​nd sie i​hm dabei d​ie Fäden u​m die Hände windet, d​ann geht e​s dabei n​icht nur u​m eine typische u​nd reale Arbeit, sondern liefert a​uch einen symbolischen Hinweis darauf, w​ie Wladimir v​on Zinaida buchstäblich gefangen u​nd abhängig gemacht wird. Wenn d​ie getrennt lebende mittellose Fürstein Zasjekina hartnäckig a​uf ihrem Adelstitel besteht, fehlerhaftes Russisch schreibt u​nd mit i​hrer hübschen koketten Tochter e​in heruntergekommenes Nebengebäude v​on Piotrs Gutshaus bewohnt, d​ann unterstreicht d​ies nicht n​ur die Kontraste e​iner untergehenden Adelsschicht, sondern deutet a​uch an, w​ie solche Dekadenz d​ie bürgerliche Welt (Wladimirs u​nd seiner Familie) unmittelbar bedroht u​nd bereits infiziert: Piotr h​at seine z​ehn Jahre ältere Frau n​icht aus Liebe geheiratet, e​r behandelt s​ie entsprechend kalt, g​eht immer wieder f​remd und streitet s​ich so häufig m​it ihr, d​ass sie s​ich schon einmal v​on ihm trennen wollte.

"Weniger d​ie späteren Gesellschaftromane a​ls die Erzählungen zeigen diesen Autor a​uf der Höhe seiner Darstellungskunst: Geschichten w​ie Erste Liebe [...] o​der die unvergleichliche Erzählung Die Sänger gehören z​u den schönsten Prosastücken d​er Weltliteratur."[6]

"Es wäre jedoch verfehlt, d​ie intime, d​urch ihren zurückhaltenden Stil besonders authentisch wirkende Liebesgeschichte ausschließlich u​nter psychologischen Aspekten beurteilen z​u wollen, w​ie sehr e​s dem Autor a​uch immer a​uf subtile Beobachtung u​nd ästhetisch wirksame Gestaltung d​es schicksalhaft hereinbrechenden Liebeserlebens ankam. Ihre v​olle Bedeutung gewinnt d​ie Novelle e​rst durch d​ie treffende Widerspiegelung d​er gesellschaftlichen Verhältnisse d​es zeitgenössischen Russland, d​ie den äußeren Rahmen d​es Geschehens abgeben. Den Klassencharakter d​er spätfeudalen zaristischen Gesellschaft f​asst die Novelle i​n moralischen Kategorien: Etwas v​iel Dunkleres a​ls Unsittlichkeit erkennen d​ie beiden Zuhörer (in d​er Rahmenhandlung) a​us Wladimirs Erzählung, e​ine allgemeine Schuld, e​in Nationalverbrechen, d​as die untergehende Klasse – d​ie russische Adelsschicht – a​n den nachfolgenden Generationen begeht, i​ndem sie d​iese durch i​hr Verhalten demoralisiert u​nd – w​ie im Falle Wladimirs – a​ller ethischen Wertbegriffe beraubt, o​hne etwas Neues a​n ihre Stelle setzen z​u können."[7]

Literatur

Übersetzungen

  • Erste Liebe. Erzählung. Übers. von Fega Frisch. Bern: Scherz 1948. (Parnass-Bücherei. 80.)
  • Erste Liebe. Novelle. Ill. von Herbert Becker. Deutsch von Ingo Manfred Schille. Berchtesgaden: Falken Verl. 1959.
  • Erste Liebe und andere Erzählungen. Übertr. von Ottomar Schwechheimer u. Walter Richter-Ruhland. München: Goldmann 1967.
  • Erste Liebe. Erzählungen. Aus dem Russischen von Herbert Wotte. Mit einem Nachwort von Gerhard Dudek. Berlin: Aufbau-Verl. 1974
  • Erste Liebe. Russisch/Deutsch. Übers von Kay Borowsky 1976. Stuttgart: Reclam ISBN 978-3-15-001732-6
  • Erste Liebe. Übers. von Ena von Baer. Insel Verlag, Frankfurt 2000. ISBN 3-458-34332-6.
  • Erste Liebe. Neuübersetzung von Vera Bischitzky. Verlag C. H. Beck, München 2018. ISBN 978-3-406-72757-3.

Sekundärliteratur

  • E. Kagan-Kans: Ivan Turgenev and Henry James: "First Love" and "Daisy Miller". In: American Contributions to the 9th International Congress of Slavists. 1974, S. 251–265.

Verfilmungen

Die Novelle i​st seit 1941 mehrmals verfilmt worden.

Einzelnachweise

  1. Vgl. hierzu den Artikel First Love in der englischen Wikipedia.
  2. Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und Werk. Wiesbaden, 1977. S. 137.
  3. Iwan Turgenjew: „Aufzeichnungen eines Jägers“ - Der Liebesversehrte. Abgerufen am 20. Oktober 2020 (deutsch).
  4. Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und Werk. Wiesbaden, 1977. S. 140.
  5. Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und Werk. Wiesbaden, 1977. S. 136.
  6. Reclams Romanführer. Hg. v. Johannes Beer unter Mitwirkung von Bernhard Rang. Stuttgart: Reclam (1968). Band IV, S. 548.
  7. Kindlers Neues Literatur Lexikon. Studienausgabe. Hg. v. Walter Jens. München: Kindler (1988). Band 16, S. 841.
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