Dualeuklidische Geometrie
Die dualeuklidische Geometrie (DEG) ist das duale Gegenstück zur euklidischen Geometrie (EG): Die euklidische Geometrie lässt sich aus der projektiven Geometrie entwickeln und in dieser gilt das Dualitätsprinzip. Die dualeuklidische Geometrie ergibt sich, indem man die Konstruktion, nach der sich die euklidische aus der projektiven Geometrie ergibt, Schritt für Schritt dualisiert. Unter diesem Gesichtspunkt beruhen die maßgeometrischen Eigenschaften z. B. der ebenen euklidischen Geometrie auf einer ausgezeichneten Geraden, in der eine elliptische Punktinvolution gegeben ist. Entsprechend ist kennzeichnend für die ebene dualeuklidische Geometrie, dass ihre maßgeometrischen Eigenschaften auf einem ausgezeichneten Punkt und einer elliptischen Strahleninvolution in diesem Punkt beruhen.
Konstruktion
Im Folgenden seien die Konstruktionen für die ebene Geometrie kurz erklärt.
Konstruktion der euklidischen aus der projektiven Geometrie
Ausgangspunkt ist die klassische projektive Geometrie (PG). Aus dieser kann man in drei Schritten die euklidische Geometrie (EG) gewinnen:
Erstens zeichnet man eine Gerade als „unendlichferne Gerade“ (u.G.) aus. Ihre Punkte heißen „Fernpunkte“. Dann definiert man neue Begriffe, die auf die ausgezeichnete Gerade Bezug nehmen. Z.B. heißen zwei Geraden „parallel“, wenn sie einen Punkt der u.G. gemein haben. Oder: Der „Mittelpunkt“ zweier Punkte ist der vierte harmonische Punkt zu und dem Fernpunkt der Verbindungsgeraden .
Zweitens zeichnet man auf der u.G. eine elliptische Involution aus, die Rechtwinkelinvolution, also eine fixpunktfreie projektive Abbildung auf den Fernpunkten, deren Elemente sich wechselseitig entsprechen. Dann nennt man Geraden, deren Fernpunkte sich in dieser Involution entsprechen, „orthogonal“.
Mit den Begriffen „parallel“ und „orthogonal“ kann man nun die gesamte euklidische Geometrie gewissermaßen innerhalb der projektiven Geometrie aufbauen (siehe z. B. Felix Klein[1]). Schließlich „vergisst“ man, in einem dritten Schritt, die unendlichferne Gerade und die elliptische Involution, spricht nicht mehr von ihnen, sondern nur noch von den ursprünglich auf sie gestützten Begriffen parallel und orthogonal. So erhält man die klassische euklidische Geometrie.
Konstruktion der dualeuklidischen Geometrie
Diesen Prozess kann man innerhalb der projektiven Geometrie dualisieren: Statt einer Geraden zeichnet man einen Punkt aus und nennt ihn z. B. „absoluten Mittelpunkt“ (a. M.).[2] Die Geraden durch den a. M. heißen „Nahgeraden“. Dann definiert man, dual zum Vorgehen bei der Konstruktion der EG, neue Begriffe, die auf den ausgezeichneten Punkt Bezug nehmen. Z.B. heißen, dual zum Begriff "parallel" in der EG, zwei Punkte „zentriert“, wenn sie auf einer gemeinsamen Nahgeraden liegen. Oder: Die „Mittelgerade“ zweier Geraden ist die vierte harmonische Gerade zu und der Nahgeraden des Schnittpunktes .
In dem absoluten Mittelpunkt zeichnet man eine elliptische (d. h. ohne reelle Doppelelemente) Strahleninvolution als Rechtwinkelinvolution aus und nennt Punkte, deren Verbindungsgeraden mit den a. M. (d. h. deren „Nahgeraden“) sich in dieser Involution entsprechen, „orthogonal“.
Entsprechend kann man den ganzen Prozess der Gewinnung der euklidischen aus der projektiven Geometrie dualisieren. Wenn man schließlich den a. M. und die Nahgeraden „vergisst“, d. h. nicht zur Geometrie rechnet, so erhält man eine Geometrie, die in jeder Hinsicht das genaue duale Abbild der euklidischen Geometrie darstellt, eine dualeuklidische Geometrie (DEG).[1]
Anmerkungen
- Manche Autoren nennen die dualeuklidische Geometrie „polareuklidische Geometrie“.
- In der Literatur sind inner- und außermathematische Anwendungsbeispiele bzw. Anwendungsmöglichkeiten der dualeuklidischen Geometrie verschiedentlich beschrieben worden.[3]
- Die euklidische und eine spezielle Version der dualeuklidischen Geometrie lassen sich auch zu einen einheitlichen Begriffssystem vereinen.[4][5]
Beispiele
Dual zu den Punkten und Geraden der euklidischen Geometrie sind die Geraden und Punkte der dualeuklidischen Geometrie. Duale Aussagen in der euklidischen und der dualeuklidischen Geometrie kann man in zwei Spalten einander gegenüberstellen. In den ebenen Geometrien beispielsweise:
euklidisch | dualeuklidisch |
---|---|
Zwei Geraden sind parallel. | Zwei Punkte sind zentriert. |
Zwei Geraden sind orthogonal. | Zwei Punkte sind orthogonal. |
Dass zwei Punkte zentriert sind bedeutet, dass sie mit dem a. M. in einer Geraden liegen. Dass sie orthogonal sind heißt, dass ihre Nahstrahlen einander entsprechende Elemente der gewählten Rechtwinkelinvolution im a. M. sind.
Mittelpunkt und Mittelgerade
Die folgenden Aussage links beschreibt eine Möglichkeit, in der euklidischen Geometrie den Mittelpunkt zweier Punkte zu konstruieren. Rechts die dazu duale Konstruktion der Mittelgerade zweier Geraden in der dualeuklidischen Geometrie:
euklidisch | dualeuklidisch |
---|---|
Zieht man durch zwei Punkte zwei Paare paralleler Geraden, so ergeben sich zwei neue Schnittpunkte und . Der Schnittpunkt ihrer Verbindungsgerade mit der Verbindungsgerade ist der Mittelpunkt der Punkte .[6] | Markiert man auf zwei Geraden zwei Paare zentrierter Punkte, so ergeben sich zwei neue Verbindungsgeraden und . Die Verbindungsgerade ihres Schnittpunktes mit dem Schnittpunkt ist die Mittelgerade der Geraden .[6] |
Schwerpunkt und Leichtgerade
Nennt man in der euklidischen Geometrie ein Gebilde bestehend aus drei Punkten (die nicht in einer Gerade liegen) mit ihren Verbindungsgeraden ein Dreieck, so spricht man in der dualeuklidischen Geometrie von einem Dreiseit, bestehend aus drei Geraden mit ihren Schnittpunkten. Es handelt sich also beide Male gewissermaßen um das gleiche Objekt, nur anders aufgefasst.
euklidisch | dualeuklidisch |
---|---|
Die Verbindungsgerade einer Ecke eines Dreiecks mit dem Mittelpunkt der gegenüberliegenden Seite heißt Schwerlinie des Dreiecks. | Der Schnittpunkt einer Seite eines Dreiseits mit der Mittelgeraden der gegenüberliegenden Ecke heißt Leichtpunkt[7][8] des Dreiecks. |
Die drei Schwerlinien eines Dreiecks gehen durch einen gemeinsamen Punkt, den Schwerpunkt des Dreiecks. | Die drei Leichtpunkte eines Dreiseits liegen in einer gemeinsamen Geraden, der Leichtgeraden[7][8] des Dreiseits. |
In den Bildern ist der Schwerpunkt des Dreiecks in der euklidischen Geometrie und die Leichtgerade des Dreiseits in der dualeuklidischen Geometrie. Die Punkte und sind die euklidischen Mittelpunkte der Dreiecksecken, die Geraden und die dualeuklidischen Mittelgeraden der Dreiseitseiten. Die gelben Linien durch in der euklidischen Abbildung Seite sind die Schwerlinien des Dreiecks, die gelben Punkte auf in der dualeuklidischen Darstellung die Leichtpunkte des Dreiseits.
Dualeuklidische Kreise
Dual zu einem euklidischen Kreis ist in der ebenen DEG ein Winkelkreis,[9][10] bestehend aus den Tangenten (den Winkelkreisgeraden) an einen Kegelschnitt. Die aus den Punkten gebildete Kurve eines solchen Kegelschnitts (seine Ordnungskurve), euklidisch gesprochen also eine Ellipse, Parabel oder Hyperbel, kann man nehmen, um einen Winkelkreis zu veranschaulichen. Dual zum Kreismittelpunkt in der euklidischen Geometrie haben Winkelkreise einen Winkelkreismittelgerade . Sie ist die Polare des a. M. in Bezug auf den Winkelkreis als Kegelschnitt.[11] In der Abbildung sind Winkelkreise (als Ordnungskurven) dargestellt, die alle die gleiche Mittelgerade haben. Man erhält zunächst Hyperbeln, die dann über eine Parabel in Ellipsen übergehen und den a. M. immer dichter umschließen. Es handelt sich dabei um das dualeuklidische Abbild euklidisch konzentrischer Kreise um einen gemeinsamen Mittelpunkt.[9]
Literatur
- Rainer Burkhardt: Elemente der euklidischen und polareuklidischen Geometrie. Urachhaus, Stuttgart 1986, ISBN 3-87838-952-3. Die dualeuklidische Geometrie wird in diesem Buch polareuklidische Geometrie genannt.
- Immo Diener: Polareuklidische Geometrie. Unendlichferne Peripherie und absoluter Mittelpunkt: Eine duale Erweiterung der klassischen Geometrie. Springer Spektrum, Berlin 2021, ISBN 978-3-662-63300-7.
- Felix Klein: Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie. Kapitel VI: Die Einordnung der euklidischen Metrik in das projektive System. Verlag von Julius Springer, Berlin 1928 (online).
- Gerhard Kowol: Projektive Geometrie und Cayley-Klein Geometrien der Ebene. Birkhäuser Verlag, Basel 2009, ISBN 978-3-7643-9901-6. Zu Bedeutung und zu Anwendungsmöglichkeiten der dualeuklidischen Geometrie siehe S. 365f.
- Louis Locher-Ernst: Projektive Geometrie. 2. Auflage. Philosophisch-Anthroposophischer Verlag, Dornach 1980, ISBN 3-7235-0232-6. Zur dualeuklidischen Geometrie (die hier polareuklidisch genannt wird) siehe Kapitel III und VI. Zu Beginn dieser Kapitel werden auch die Grundlagen für die Konstruktion der räumlichen euklidischen und dualeuklidischen Geometrie gelegt.
Einzelnachweise
- Felix Klein: Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie. Kapitel VI, §2. 1928.
- Louis Locher-Ernst: Projektive Geometrie. 2. Auflage. Dornach 1980, Kapitel III, S. 241f.
- Siehe z. B. Immo Diener: Polareuklidische Geometrie. Springer Spektrum, 2021, Kapitel 4.5 u. 6.3. und Gerhard Kowol: Projektive Geometrie und Cayley-Klein Geometrien der Ebene. 2009, S. 365 f.
- Immo Diener: Polareuklidische Geometrie. Springer Spektrum, 2021.
- M. Enders: Die Dualität in der Geometrie des Maßes. In: Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht. Band 62., Nr. 8,. B.G. Teubner, Leipzig / Berlin 1931, S. 337–341.
- Louis Locher-Ernst: Projektive Geometrie. 2. Auflage. Dornach 1980, Kapitel III, S. 246f.
- Louis Locher-Ernst: Projektive Geometrie. 2. Auflage. Dornach 1980, Kapitel III, S. 249.
- Gerhard Kowol: Projektive Geometrie und Cayley-Klein Geometrien der Ebene. 2009, S. 364.
- Felix Klein: Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie. 1928, S. 183.
- Louis Locher-Ernst: Projektive Geometrie. 2. Auflage. Dornach 1980, Kapitel IV, S. 262.
- Rainer Burkhardt: Elemente der euklidischen und polareuklidischen Geometrie. 1986, S. 62.