Diogenes von Oinoanda
Diogenes von Oinoanda (griechisch Διογένης ὁ Οἰνοανδέας Diogénēs ho Oinoandéas) war ein antiker griechischer Autor aus der Stadt Oinoanda in Lykien (Kleinasien).
Person
Er ist der Autor einer umfangreichen Inschrift von wohl ca. 30.000 Wörtern und ca. 60 bis 80 m Länge, die an der Rückwand einer Säulenhalle an der Agora angebracht worden war und nur in Bruchstücken erhalten geblieben ist. Sie umfasste mehr als 120 Textspalten; damit war sie ein in ihrer Art einzigartiges Denkmal.
Als Entstehungszeit der Inschrift wurde lange Zeit meistens die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. angenommen, nach neueren Forschungen, die sich auf Namen, die auf inzwischen neu gefundenen Fragmenten der Inschrift erwähnt werden, und auf die Form der verwendeten Buchstaben beziehen, kommt aber inzwischen eher schon das erste Viertel des 2. Jahrhunderts in Frage (Lit.: so Martin Ferguson Smith). Eine Minderheit von Forschern plädiert sogar bereits für die letzten Jahrzehnte vor Christi Geburt (Lit.: so Smith/Canfora). Über Diogenes ist nichts bekannt, er muss jedoch ein sehr wohlhabender Mann gewesen sein.
Möglicherweise ist er identisch mit einem gewissen Flavianus Diogenes, einem römischen Bürger aus Oinoanda, der aus anderen Inschriften bekannt ist. Außerdem gibt es die Vermutung, dass Diogenes von Oinoanda mit dem Autor Diogenes Laertios identisch sein könnte, doch wird dies von den meisten Forschern abgelehnt.
Inhalt der Inschrift
Die Inschrift, die so angebracht war, dass Vorübergehende sie leicht lesen konnten, umfasste in etwa folgende Texte (die genaue Zuweisung der erhaltenen Fragmente ist teils umstritten):
- Eine Einleitung, in der Diogenes seine Wendung zur Philosophie und die Anbringung der Inschrift erklärt.
- Diogenes’ Abhandlung Über die Natur, d. h. die Prinzipien der epikureischen Physik und Weltsicht.
- Diogenes’ Abhandlung über Ethik unter dem (erhaltenen) Titel Diogenes von Oinoandas Auszug über die Affekte und die Handlungen.
- Diogenes’ lange Abhandlung Über das Alter, die das Greisenalter gegen die üblichen Vorwürfe verteidigt.
- Einen Brief des Diogenes an einen gewissen Antipatros über die unendliche Zahl der Welten, in dem Diogenes die schon in der Antike oft angegriffene epikureische Lehre verteidigt, dass es unendlich viele Welten (κόσμοι, kosmoi) gebe.
- Einen Brief an seine Mutter, vielleicht in der traditionellen Form einer Trostschrift, von dem v. a. ein Abschnitt über die Bedeutung von Träumen erhalten ist.
- Das Testament des Diogenes sowie einen offenen Brief an seine Freunde, in denen er vom Leben Abschied nimmt und erneut die Anbringung der Inschrift erwähnt.
- Diverse Maximen und Sentenzen Epikurs, die teils auch in anderen Quellen überliefert, teils nur hier belegt sind.
Zusammen bildeten diese Texte einen vielfältigen und überaus lebendigen Abriss der Lehre Epikurs. Seit 2007 neu gefundene Fragmente enthalten eine Auseinandersetzung mit Lehren Platons.[1] Die Suche nach weiteren Teilen der Inschrift dauert an.
Schicksal und Bedeutung der Inschrift
Die Inschrift ist die längste und größte, die bislang aus der Antike bekannt ist. Die Säulenhalle wurde in späterer Zeit zerstört, vielleicht bei einem Erdbeben 140/141 n. Chr. (dies würde natürlich ebenfalls gegen die traditionelle Datierung der Inschrift in das spätere 2. Jahrhundert sprechen); viele Reste der Inschrift wurden bei der Neuerrichtung der Agora verbaut. So sind lediglich 212, teils größere Fragmente der Inschrift gegen Ende des 19. Jahrhunderts von französischen, deutschen und österreichischen Forschern entdeckt und erstmals publiziert worden – gewisse Teilbereiche der Lehre Epikurs, die in der Inschrift behandelt gewesen sein müssen, sind in den erhaltenen Fragmenten jedoch unterrepräsentiert (z. B. die Physik). Die Inschrift zeigt, dass ihr Verfasser ein begeisterter Anhänger der Lehre Epikurs war, der im hohen Alter dafür sorgen wollte, dass diese Philosophie möglichst vielen Menschen bekannt werde. Daneben ging es dem wohlhabenden Mann offenkundig auch um den eigenen Nachruhm. Diogenes kannte sich offensichtlich in der epikureischen Lehre gut aus; verschiedene Details dieser Doktrin sind einzig in seiner Inschrift überliefert.
Folgt man der traditionellen Spätdatierung, so bildet die Inschrift insgesamt ein bedeutsames Zeugnis dafür, dass der Epikureismus im 2. Jahrhundert n. Chr. noch eine bedeutsame Bewegung darstellte. Aber auch bei einer früheren Datierung ist es zumindest erstaunlich und bewundernswert, wie Diogenes in seiner eher abgelegenen Polis ein so immenses Werk zusammenstellen konnte. Die Inschrift stellt wohl den bedeutsamsten aus der Antike bekannten Versuch dar, Philosophie „für alle“, die lesen konnten, zugänglich zu machen, waren geschriebene Bücher doch relativ teuer. In der Einleitung heißt es (Frg. 2 Chilton, col. IV–VI):
- Außerdem ist es richtig und billig, auch jenen Menschen zu helfen, die nach uns leben werden (gehören doch auch sie zu uns, obwohl sie noch nicht geboren sind), und schließlich gebietet die Menschlichkeit, auch den zu uns kommenden Fremden Hilfe zu gewähren. Da also die Hilfe, welche diese Inschrift leisten soll, eine beträchtliche Zahl von Menschen betrifft, habe ich beschlossen, die hilfreichen Heilmittel [der epikureischen Lehre] allgemein zugänglich zu machen.
Oionoanda liegt auf einem entlegenen Berggipfel und ist bis heute touristisch nicht erschlossen und nur querfeldein erreichbar. Aus diesem Grund dauerte es lange, bis man die Ruinenstadt näher erforschte. Seit 2007 betrieb jedoch das Deutsche Archäologische Institut in Istanbul (DAI) gemeinsam mit dem Kölner Gräzisten Jürgen Hammerstaedt systematische Forschungen in Oinoanda, um in der bislang archäologisch nur unzureichend erfassten Stadt weitere Teile der monumentalen Inschrift zu finden. Martin Bachmann war im Rahmen dieser Studien bereits im Juli 2008 auf 26 weitere Steine mit Fragmenten der Inschrift gestoßen. U.a. enthalten sie Verweise auf Platon und deuten mit der Nennung eines „höchsten Gottes“ die Entwicklung einer henotheistischen Strömung an.[1] Auch im Sommer 2009 wurden weitere Fragmente entdeckt; die Neufunde wurden jährlich von Hammerstaedt und Martin Smith publiziert. Das DAI-Projekt wurde auch 2010 und 2011 fortgesetzt, bevor es 2012 zum vorläufigen Abschluss kam. Schätzungsweise 40 Prozent des Textes dürften damit bekannt sein.
Ausgaben und Übersetzungen
- Cecil W. Chilton (Hrsg.): Diogenes Oenoandensis fragmenta. Teubner, Leipzig 1967 (griechischer Text mit lateinischer Einleitung, Rekonstruktion, einem Faksimile sowie griechischem Index)
- Diogenes of Oenoanda: The Fragments. Hrsg. v. Cecil W. Chilton, Oxford 1971 (englische Übersetzung mit ausführlicher Einleitung und Kommentar)
- Diogenes von Oinoanda: The Epicurean inscription. Ed. with introd., translation, and notes by Martin Ferguson Smith. Neapel 1993. ISBN 88-7088-270-5 (neueste, maßgebliche Ausgabe des griechischen Textes)
- Diogenes of Oinoanda: The Epicurean inscription. Supplement. Ed. with introd., translation, and notes by Martin Ferguson Smith. Neapel 2003. ISBN 88-7088-441-4
- Martin Ferguson Smith: The philosophical inscription of Diogenes of Oinoanda. Tituli Asiae minoris. Ergänzungsbände. Band 20. Wien 1996. ISBN 3-7001-2596-8
- Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike. Übers. und hrsg. von Fritz Jürß, Reimar Müller und Ernst Günther Schmidt. Leipzig 1977. ISBN 3-379-00245-3 (deutsche Übersetzung der meisten damals bekannten Fragmente auf S. 427–450)
Literatur
Übersichtsdarstellungen
- Tiziano Dorandi: Diogenes von Oinoanda. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 3, Metzler, Stuttgart 1997, ISBN 3-476-01473-8, Sp. 604–605.
- Michael Erler: Diogenes von Oinoanda. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/1). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3698-4, S. 207–211, 246–249
- Robert Philippson: Diogenes von Oinoanda. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Supplementband V, Stuttgart 1931, Sp. 153–170 (Zusammenfassung der Entdeckungs- und älteren Forschungsgeschichte).
- Bernadette Puech, Richard Goulet: Diogène d’Oinoanda. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 2, CNRS Éditions, Paris 1994, ISBN 2-271-05195-9, S. 803–806
Untersuchungen
- Pamela Gordon: Epicurus in Lycia. The Second-Century World of Diogenes of Oenoanda. University of Michigan Press, Michigan 1996, ISBN 978-0472104611 (Versuch einer Einbettung in den geistesgeschichtlichen Kontext)
- Jürgen Hammerstaedt: Inschrift und Architektur. Die philosophische Publizistik des Diogenes von Oinoanda. In: Werner Eck, Peter Funke (Hrsg.): Öffentlichkeit – Monument – Text. De Gruyter, Berlin 2014, S. 731–755.
- Peter Scholz: Ein römischer Epikureer in der Provinz. Diogenes von Oinoanda und sein Adressatenkreis. In: Karen Piepenbrink (Hrsg.): Philosophie und Lebenswelt in der Antike. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-17041-5, S. 208–227 (online).
- Martin Ferguson Smith, Luciano Canfora: Did Diogenes of Oinoanda know Lucretius? In: Rivista di filologia e di istruzione classica. Band 121, 1993, S. 478–499 (neuere Diskussion um die Datierung der Inschrift).
- Christian Vassallo: The Presocratics at Herculaneum: A Study of Early Greek Philosophy in the Epicurean Tradition. With an Appendix on Diogenes of Oinoanda's Criticism of Presocratic Philosophy, Studia Praesocratica 11. De Gruyter, Berlin-Boston 2021, ISBN 978-3-11-0726985, S. I–XXII + 763