Diateichisma
Ein Diateichisma (altgriechisch διατείχισμα ‚durchlaufende Mauer‘, ‚Trennmauer‘) war im antiken Befestigungswesen der Griechen eine Mauer, innerhalb der Stadt.
Das Wort Diateichisma besitzt keine feste deutsche Übersetzung, da ansonsten der Begriff zu stark eingeschränkt sein könnte. Das griechische Wort διατείχισμα besteht aus den Elementen δια ‚zwischen‘, ‚durch‘ und τείχισμα ‚Burg‘, ‚Festung‘ oder die ‚aufgeführte Mauer‘. διατείχισμα kann insofern sowohl abgetrennter und befestigter Raum, Mauer zwischen zwei Plätzen als auch Quermauer bedeuten.[1] Ein Diateichisma ist eine Befestigungsmauer, die innerhalb des mit der Stadtmauer ummauerten Siedlungsareals liegt und dieses in zwei Teile teilt. Das Diateichisma besteht genau wie die Stadtmauer auch aus den Elementen Kurtine, Tor und Turm. Allerdings weist es nicht so viele Tore auf wie eine Stadtmauer und besitzt auch keine Ausfallpforten. Somit ist es nicht geeignet, um im Falle eines bewaffneten Konfliktes einer Angriffstaktik zu nutzen, sondern wurde wahrscheinlich, sofern fortifikatorisch genutzt, als passives Verteidigungswerk eingesetzt.[2] Interessant ist die Angleichung an die Stadtmauer, so dass auch bei dem Diateichisma innerhalb der Stadt durch die Position der Türme und Wehrgänge eine innere und eine äußere Seite existierte, so dass es definitiv eine Hierarchie innerhalb der Stadtgebiete gegeben haben muss, da die innere Seite wesentlich mehr Schutz bot.
Quellenlage über Diateichisma
Generell ist zu sagen, dass Diateichisma als Wort nur in antiker griechischer und byzantinischer Literatur auftaucht. In der lateinischen Literatur wurde dieser Begriff nicht übernommen.[3] Inhaltlich wird Diateichisma hauptsächlich auf sein Hauptcharakteristikum bezogen genutzt. So steht es vor allem für die Trennung von Gemeinsamen. Interessant ist, dass die antiken Autoren das Wort häufig auch als Metapher nutzen. In diesem Kontext sei zum Beispiel die Nutzung von Diateichisma bei Xenophons Symposion zu nennen, bei der es als die Erkenntnisfähigkeit beschränkende Barriere gedeutet werden kann.[4] Bei Thukydides liegt die früheste Erwähnung von Diateichismata vor. Er benutzt das Wort vor allem, um Anlassbauten zur Verteidigung zu beschreiben. Im militärischen Kontext meist hastig errichtete, kleinere Schutzmauern, die aber im Folgenden oft wieder geschleift werden. Im Gegensatz zu diesen bei Thukydides genannten, kurzfristigen Bauten, stehen die in den griechischen Inschriften fassbaren Diateichismata. Dort werden sie als lange geplante und qualitätsvolle Bauwerke beschrieben, welche eine lange Zeit überdauern.[5]
Gruppen von Siedlungen
Man kann sagen, dass die Errichtung von Diateichismata in chronologischer Reihenfolge zur Umfassungsmauer entweder gleichzeitig mit ihr oder danach entstanden sein kann. Warum diese Unterscheidung zu treffen ist, folgt aus der Untersuchung der Siedlungsraumentwicklung, „da die Größe und der Verlauf der Befestigungsanlage bestimmend für die Gestalt und Ausdehnung einer Siedlung sind“[6]. Also werden die Diateichisma-Siedlungen in drei Gruppen unterteilt, damit die Funktion der Siedlungsteilgebiete, wie auch die Erweiterung und Verkleinerung von Siedlungen, beleuchtet werden kann. Diese drei Gruppen sind Siedlungen, bei denen mit der Ummauerung Diateichismata errichtet wurden, Siedlungen mit später errichteten Diateichismata und Siedlungen bei denen Diateichismata durch Vergrößerung entstehen, also eine neue Stadtmauer der alten vorgelagert wird, so dass die Alte nun als Diateichisma betrachtet werden kann. Die letzten beiden Gruppen sind zwar beides Städte, bei denen ein Diateichisma erst später errichtet wird, allerdings bildet dieses durch Stadterweiterung eine eigenständige Gruppe, da es sich hierbei nicht um eine autarke Mauer handelt. Zeitlich kann man Diateichismata vom 7. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. ansiedeln. Ihre Blütezeit allerdings liegt im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. Trotz allem muss natürlich auch erwähnt werden, dass dies alles nur unter Vorbehalt gesagt werden kann. Die Datierungen sind zum Großteil sehr vage und sofern nicht epigraphisch oder in anderer Form schriftlich belegt, nur als Vermutung zu äußern. Dabei liegt das Problem auch darin, dass archäologisch fast kein Diateichisma zu fassen ist, da die meisten im Laufe der Zeit geschleift wurden.
Das Verhältnis von Diateichisma und Siedlungsform
Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Diateichisma und Siedlungsform kann man feststellen, dass Diateichismata, obgleich sie vorrangig fortifikatorische Funktionen besaßen, nicht nur aufgrund dessen bei militärischen Einrichtungen zu finden sind, sondern auch bzw. überwiegend in Poleis ohne militärischen Nutzen. Interessant ist, dass Diateichisma-Siedlungen generell einen differenzierten Siedlungsraum aufweisen. Das führt natürlich zu der Frage, ob man aufgrund des Vorhandenseins eines Diateichisma auf den politischen Status einer Siedlung schließen kann. Bei der Betrachtung der zivilen Poleis kann man feststellen, dass Diateichisma nur errichtet werden, wenn eine politische Unabhängigkeit zu postulieren ist. Sollte die Selbstständigkeit verloren gehen, so wird das Diateichisma in der Regel nicht zerstört. Bei Wiedererlangen der politischen Unabhängigkeit jedoch meistens geschleift, da man durch die vermutlich wechselnde Führung das Diateichisma als Zeichen der alten Machthaber aus dem Stadtbild entfernen wollte. Dadurch wird deutlich, dass ein Diateichisma wohl auch als ein Zeichen von Autonomie und Macht galt. Bei einer kriegerischen Auseinandersetzung jedoch wurden meistens die äußeren Befestigungsanlagen geschleift, da dies als Verlust der Unabhängigkeit galt. Insofern kann ein Diateichisma nicht als Garantie und auch nicht als Zeichen für Autonomie verwendet werden.[7]
Die fortifikatorische Funktion von Diateichismata
Wie schon in den vorigen Abschnitten erwähnt, besitzen Diateichismata vor allem fortifikatorische Funktionen. Dabei sollen Feinde, welche die äußeren Stadtmauern bereits durchbrochen haben, innerhalb des Stadtgebietes am Weiterkommen gehindert werden. Bei Siedlungen des ersten Typs kann man davon ausgehen, dass sich die Erbauer darüber im Klaren waren, dass sie ihre Stadt besser gegen Angriffe und Konflikte mit Gewalteinwirkung schützen mussten und insofern ein gleichzeitiges Diateichisma errichten ließen. Deshalb wird die fortifikatorische Funktion vor allem bei gleichzeitigem Bau eine entscheidende Rolle gespielt haben. Allgemein ist zu sagen, dass diese Siedlungen vor allem logistisch bedeutsame Punkte waren, die aufgrund ihrer wichtigen Funktion vermehrt von Aggressoren bedroht wurden. Da die äußeren Gebiete meist nur gering bebaut waren und definitiv eine sehr geringe Rolle im Vergleich zu dem vom Diateichisma abgeschlossenen Bereich spielten, kann man davon ausgehen, dass in Krisenzeiten die geschützten Bereiche als Rückzugsgebiete zu sehen sind, in denen die Bewohner Schutz suchen konnten.[8] Infolgedessen sind beim ersten Typus fast ausschließlich Diateichismata, welche an strategisch günstig gelegenen Positionen gebaut sind, zu finden. Strategische Positionen, entlang von Hügelkämmen oder unterhalb von Anhöhen wurden überwiegend gewählt.[9] Auch bei nachträglich errichteten Diateichismata können fortifikatorische Funktionen angenommen werden, um bevorzugte Siedlungsgebiete zu sichern. In einigen Siedlungen ist zu erkennen, dass das Siedlungsgebiet, welches nicht vom Diateichisma eingeschlossen wird, aufgegeben wurde. Allerdings sind komplette Siedlungsaufgaben im archäologischen Befund eher schwer nachzuweisen. Diese Siedlungsaufgaben können unter anderem daraus resultieren, dass man Kosten oder Personal einsparen musste. A. Sokolicek postuliert eine Verkleinerung des Siedlungsgebietes zur Kosten- und Personaleinsparung für Milet, Theangela und Herakleia am Latmos, wobei dies seinerseits lediglich Vermutungen sind. Die fortifikatorische Funktion des Diateichisma unterscheidet sich in diesen Städten von denen des ersten Typs, da hier die komplette Verteidigungsfunktion ausschließlich vom Diateichisma übernommen wird.[9] Für Diateichisma bei Stadterweiterung, welche nicht explizit neu errichtet wurden, kann als Funktion die Gewährleistung der Defensivstärke angenommen werden. Zusätzlich wurden die neu gewonnenen Gebiete durch Mauern gesichert, welche aber meistens keine so qualitätsvolle Bauweise aufweisen.
Diateichismata als Trennmauer zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppe
A.W. Lawrence schließt aufgrund des Vorkommens von Diateichismata in Siedlungen und Regionen mit Bevölkerung unterschiedlicher Herkunft, anhand des Beispieles von Ai Khanoum, dass Diateichismata auch als „ethnic boundaries“ fungierten.[10] Also werden Diateichismata auch bei innerstädtischen Konflikten genutzt, um eine Trennung der unterschiedlichen Parteien zu bewirken. Ein Beispiel dafür ist das Diateichisma in Notion, welches Sympathisanten der Perser von ihren Gegnern trennte. Dies ist uns durch Thukydides überliefert.[11] Im archäologischen Befund ist dieses Diateichisma nicht eindeutig zu identifizieren. A. W. Lawrence führt als weiteres Beispiel auch Histria an, in welcher es zu einer Trennung von „Greek and Dacian inhabitants“ durch ein Diateichisma kommt.[12] Allerdings sollte man nicht dem Trugschluss erliegen, dass ein Diateichisma in einer Siedlung mit unterschiedlicher ethnologischer Bevölkerung generell ein Zeichen von innerstädtischen Konflikten und Partizipation bzw. Segregation ist. Es kann durchaus vorkommen, dass bei Siedlungen mit Diateichisma des ersten Typs schon von Beginn an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen dort lebten, so dass sie lediglich ihr Recht auf eine eigene Befestigung geltend machten.
Verhältnis von urbanem Raum und Diateichisma
Zuerst sei gesagt, dass nicht bei jedem Diateichisma eine formale Beziehung zwischen der Mauer und dem urbanen Raum besteht, aber trotzdem eine Korrelation zwischen Siedlungsverhalten und den Befestigungsanlagen zu erkennen ist. So ist durchaus festzustellen, dass in Städten oder Siedlungen mit Diateichisma keine völlig gleichberechtigte Stadtteile auf beiden Seiten des Diateichisma zu finden sind, sondern der vom Diateichisma geschützte Teil die wichtigeren Einrichtungen bzw. in der urbanen Hierarchie höher gestellte Gebäude beherbergt, welche das Überleben der Bewohner sichern, wie z. B. Brunnenanlagen oder Nahrungsmitteldepots. So zeigt sich im archäologischen Befund, dass Hausarchitektur und Brunnenanlagen zum Beispiel vermehrt in den vom Diateichisma abgetrennten Bereich vorkommen. In diesem Kontext sind zum Beispiel Syrakus oder Samos zu nennen. Allerdings werden auch öffentliche Gebäude von den restlichen Wohnbauten durch Diateichismata separiert. Beispiele dafür finden sich unter anderem in Appolonia in Illyrien, in Velia , oder Halos. Bei Hafenstädten an Flüssen oder am Meer fällt auf, dass die merkantil genutzten Bereiche um den Hafen, welche als Umschlagplatz für Güter dienten, oft mit einem Diateichisma abgegrenzt sind. A. Sokolicek schlägt vor, dass diese Abgrenzung dazu diente, dass Waren nicht ungesehen und somit zollfrei in die Stadt gelangten. Er führt als Beispiele Lissos und Piräus an, wobei das abgegrenzte Handelsareal bei Piräus auch von Xenophon schriftlich überliefert ist. Auch in Rhodos ist ein Diateichisma im Hafengebiet von Diodor schriftlich überliefert. Dieses dürfte nach dem Angriff von Demetrios I. Poliorketes 305 v. Chr. errichtet worden sein. Aufgrund der detaillierten Beschreibung Diodors kann das Diateichisma als Trennmauer zwischen einem kleineren[13] und einem größeren Hafen[14] lokalisiert werden. Ebenfalls ist die Funktion des kleineren Hafens als Militärhafen und des größeren als Handelshafen überliefert, so dass das Diateichisma hier eine separierende Funktion zwischen zivilem und militärischem Gebiet übernimmt.
Die Rolle von Diateichismata in der Stadtplanung
Das Diateichisma musste sehr sorgfältig geplant werden, da es ein stark defensiv ausgerichteter Fortifikationsbau war, welcher insofern ohne viele Tore und Pforten auskam. Dadurch hatte ein solcher Bau auch Auswirkungen auf die Bewohner. Auf der einen Seite wurde durch die Errichtung die defensive Stellung einer Siedlung nachhaltig gestärkt und auch der abschreckende Faktor erhöht, allerdings unterband er auf der anderen Seite auch die schnelle Kommunikation der Stadtviertel untereinander. Ebenfalls wurden die Verkehrs- und Handelswege stark eingeschränkt. Auch war der Bau nicht einfach durchzusetzen. So wurde in Troizen, welches durch einen Aggressor bedroht wurde, der Bau des Diateichisma durch ein Epidosisdekret, das die Enteignung von Grundbesitz möglich machte, bewilligt. In Velia mussten hingegen externe Gutachter aus Stymphalos herangezogen werden, da aufgrund von Streitigkeiten um Grundbesitz der Verlauf des Diateichisma nicht selbstständig geklärt werden konnte. Dies wissen wir durch ein Ehrendekret, in welchem sich die Bewohner für die Hilfe der externen Gutachter bedanken.[15][16] Anhand dieser Beispiele lässt sich erkennen, dass der Bau eines Diateichisma immer eine erhebliche Planung benötigte und eng mit der Siedlungsgestaltung und der Topographie verbunden ist.
Gründe für die Errichtung von Diateichismata
Diateichismata wurden unter anderem dazu verwendet, Siedlungsverkleinerungen zu vollziehen. Allerdings stellt sich die Frage, warum eine solche Siedlungsverkleinerung nötig gewesen sein könnte. In diesem Punkt ist vor allem zu Beginn der hellenistischen Zeit zu bemerken, dass sehr viele Siedlungen auf eine wesentlich kleinere Siedlungsfläche zusammenschrumpfen. In diesem Kontext seien beispielhaft Herakleia , Milet oder Athen zu nennen. Aber auch Selinunt blieb bei dem Wiederaufbau nach seiner Zerstörung 409 v. Chr. durch die Karthager „auf einen kleinen Teil der alten Großstadt beschränkt“.[17] Dies alles deutet auf einen demographischen Rückgang, gepaart mit Einsparmaßnahmen, hin. Die Kosten von Diateichismata bei Siedlungsverkleinerung konnten in Grenzen gehalten werden, da oftmals die alten Siedlungsgebiete aufgegeben wurden und die alten Mauern geschleift und für das Diateichisma weiterverwendet werden konnten.[18] Weiterhin wurde Personal durch die Verkleinerung der Mauer eingespart. Allerdings ist zur gleichen Zeit auch Siedlungswachstum in einigen Gebieten zu erkennen. Dieses Wachstum geht unter anderem mit dem Prozess des Synoikismos einher. Als Beispiel wird bei Tanais und Histria angenommen, dass sich vor den Toren der Stadt Einheimische ansiedelten. Somit bildete sich vor der Stadt ein proasteion. Diese „Vorstädte“ wurden in der Folge meist in die Stadt eingegliedert und erhielten eine eigene Stadtmauer.
Literatur
- Arnold W. Lawrence: Greek aims in fortification. Clarendon Press, Oxford 1979, ISBN 0-19-814824-0.
- Alexander Sokolicek: Diateichismata. Zu dem Phänomen innerer Befestigungsmauern im griechischen Städtebau (= Ergänzungshefte zu den Jahresheften des Österreichischen Archäologischen Institutes in Wien (ErghÖJh); Band 11). Wien 2009, ISBN 978-3-900305-54-3 (zugl. Dissertation, Universität Wien 2003).
- Dieter Mertens: Selinus I. Die Stadt und ihre Mauern. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2003, ISBN 978-3-8053-3248-4.
Einzelnachweise
- Sokolicek 2009, 13.
- Sokolicek 2009, 9.
- Sokolicek 2009, 15.
- Xen. Symp. 5,6.
- Sokolicek 2009, 16.
- Sokolicek 2009, 19.
- Sokolicek 2009, 25-28.
- Lawrence 1979, 133.
- Sokolicek 2009, 30.
- Lawrence 1979, 149.
- Thuk 34, 3, 2.
- Lawrence 1979, 149.
- Diodor,Bibliothéke historiké 20,85,4.
- Diodor 20, 86, 1.
- Inscriptiones Graecae VII 317, 1, 26.
- Sokolicek 2009, 38.
- Mertens 2003, 252.
- Lawrence 1979, 150.