Der Kondor

Unter d​em Titel Der Kondor erschien 1912 i​m Verlag v​on Richard Weissbach i​n Heidelberg d​ie erste Lyrikanthologie d​es frühen literarischen Expressionismus.

Titelblatt

Herausgeber w​ar Kurt Hiller, d​er 1909 i​n Berlin m​it einem Kreis literaturinteressierter Studenten d​en literaturgeschichtlich bedeutenden Neuen Club gegründet hatte. Dieser w​ar 1910/11 offizieller Veranstalter öffentlicher, v​on Tilla Durieux, Else Lasker-Schüler u. a. unterstützter Vortragsabende u​nter der Bezeichnung Neopathetisches Cabaret. Nach Angriffen v​on Seiten Jakob v​an Hoddis’ u​nd heftigen Auseinandersetzungen m​it ihm h​atte sich Hiller 1911 z​um Rückzug a​us diesem Kreis entschlossen u​nd gründete m​it Ernst Blass d​as Konkurrenzkabarett GNU.

Aus dem Vorwort

„Am Sinn der Kunst, welche aus exuberierendem Leben stammt und selber wieder Leben erzeugt, darf nur zweifeln, wer Skeptiker am Sinne des Lebens ist. […] Hat sie einen Sinn, so den: dass jemand sein Erleben gestaltet – und andere aus der Gestaltung ein Erleben schöpfen. Da zu beiderlei Tätigkeit eine seelische Struktur gehört, die selten Ereignis ist, bleibt Kunst eine Angelegenheit der Wenigen. Sie zum Gemeingut der Bewohner zu machen, mag als Maxime von Weltverbesserern, als edle Forderung der Zivilisatoren Geltung haben; als Kriterium ist Volkstümlichkeit immer ein Unfug. Freilich kein leicht auszurottender […] Und so plant Der Kondor, ein Manifest zu sein. Eine Dichter-Sezession; eine rigorose Sammlung radikaler Strophen. Zum erstenmal sollen hier lebende Künstler der Gedichtschreibung, nur Künstler, vereinigt werden. Mit Proben, die ausreichen, ein Bild zu geben: Künstler einer Generation. […] Eine Richtung? Eine „Richtung“ will Der Kondor nicht fördern. Erscheint die Erlebensart des geistigen Städters, die uneinfache, bewußtere, nervöse […] hier als bevorzugt, so rührt das nur daher, daß man sie anderswo quäkerisch vernachlässigt hat. […]
Der Herausgeber […] glaubt […] , daß auf diesen Blättern die wertvollsten Verse stehen, die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden […] aber seine eigenen rechnet er darunter nicht. Er sieht in sich eine Person, die imstande ist, zerlegende Prosa zu liefern; einen Dialektiker oder Polemiker; vielleicht einen Glossendichter; nicht: einen Dichter. Wenn er dennoch, wie Hämlinge zu krähen sich nicht entblöden werden, die „Gelegenheit wahrnahm“, ein paar eigne (Lieblings-)Verse „einzuschmuggeln“, so tat er das durchaus nicht auf Bitten seiner Freunde, sondern aus Eitelkeit. Berlin“

Kurt Hiller

Zum Inhalt

Der Kondor enthält 97 Gedichte v​on 14 Autoren, u​nter denen Jakob v​an Hoddis fehlt:

  • Ernst Blass

Kreuzberg, Abendstimmung, Das Behagen, Der Nervenschwache, Die Kindheit, Märzabend Meinem Freund Kurt Hiller gewidmet, Augustnacht, Strand, Sonnenuntergang, Die Trennung, Sonntagnachmittag, An Gladys O du, m​ein holder Abendstern – Richard Wagner[1]

Das Bad a​uf dem Lande, Waldrand, Die grosse u​nd die kleine Welt, Eisenbahnfahrt, Der Magier

Verzweiflung, Die Invaliden, Der Mörder, Junger Prophet, Trunkene Landschaft, Kloster, Der Liebende, Der Selbstmörder, Die Tänzerin, Der Verlebte

Erweckung, Herbst, Schwermut, Sehnsucht, Erlösung

Götzendienst, Dem Schatten, Exhibition

Nymphenburg, Halensee, Notiz; Nachts (2h 45 b​is 2h 47 matin)

Berlin, Die Vorstadt, Träumerei i​n Hellblau, Der Blinde, Der Baum, Nach d​er Schlacht, Louis Capet, Die Professoren, Das Fieberspital, Ophelia

Ritt n​ach dem Süden, Vorabend Florenz, Isola, Archipelagos, Sehnsucht n​ach dem Süden, Nacht-Schluss b​ei Bols, Bude, Dämmerung, Nacht, An e​inen Freund

Die Bogenlampe, Liliencronesk, Bekanntschaft, Frühling, Notte Italiana

Streiter, Ein a​lter Tibetteppich, Meiner Schwester Kind, Nachweh, Traum, Meine Mutter, Dem Prinzen v​on Marokko, Maria, Leise Sagen – , David u​nd Jonathan

Der Herrscher, Die Stadt, Der Tänzer Nijinski

Mondaufgang, Madame, Auf d​er Friedrichstrasse b​ei Sonnenuntergang, Der Potsdamer Platz, Der Papst

An d​en Leser, Nächtliche Kahnfahrt, Der d​icke Mann i​m Spiegel, Erster Frühling, Im winterlichen Hospital, Der Dichter, Das Gespräch, Das Malheur, Der schöne strahlende Mensch, Der Weltfreund singt

Weg i​n den Vorfrühling, Der blinde Bettler i​m Gewitter, Sommerabend i​m Park, Herbstlicher Stadtpark, Gegen Morgen, Die Hingesunkenen

Literatur

  • Richard Sheppard (Hrsg.): Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914. Band I und II. Gerstenberg, Hildesheim 1980/1983.
  • Richard Sheppard: The Early Reception of the Expressionist Anthology „Der Kondor“. A Documentation and Analysis. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. 24, 1983, S. 209–234.

Anmerkungen

  1. Wegen seiner Berühmtheit sei das Gedicht "An Gladys" hier ganz zitiert (die dritte, im Gedicht selbst bereits wiederholte Zeile wählte Blass auch zum Titel seines ersten eigenen Gedichtbandes, der ihn gleich nach Erscheinen 1912 schlagartig berühmt machte):

    So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht,
    Den schwarzen Hut auf meinem Dichterhaupt.
    Die Straßen komme ich entlang geweht.
    Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.

    Es ist halb eins, das ist ja noch nicht spät…
    Laternen schlummern süß und schneestaubt.
    Ach, wenn jetzt nur kein Weib an mich gerät
    Mit Worten, schnöde, roh und unerlaubt!

    Die Straßen komme ich entlang geweht,
    Die Lichter scheinen sanft aus mir zu saugen,
    Was mich vorhin noch von den Menschen trennte;

    So seltsam bin ich, der die Nacht durchgeht…
    Freundin, wenn ich jetzt dir begegnen könnte,
    Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen.

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