Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin
Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin ist ein Werk von Otto Glagau von 1876 und 1877.
Hintergründe
Der liberale Journalist Otto Glagau verlor 1873 beim Börsenkrach alle seine Aktienanteile am bankrottgegangenen Unternehmen Lindenbauverein. Daraufhin recherchierte er intensiv die Hintergründe der Ereignisse in Zeitungen und anderen Informationsquellen. Noch in diesem Jahr 1873 schrieb er darüber das Theaterstück Aktien. Dieses wurde jedoch von den meisten Theatern abgelehnt.
1875 veröffentlichte Glagau eine zwölfteilige Artikelserie in der viel gelesenen Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Diese erreichte eine große Resonanz und wurde der Höhepunkt seines publizistischen Wirkens. 1876 und 1877 gab er auf deren Grundlage Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin in zwei Bänden mit einem erweiterten Inhalt heraus.
Inhalt
Otto Glagau beschrieb in den Büchern zahlreiche Aktienunternehmen und deren Entwicklung in den frühen 1870er Jahren. Diese Darstellungen sind mit viel Sachkenntnis beschrieben und bieten einen detaillierten Einblick in Hintergründe und Zusammenhänge. Er beschreibt auch Verflechtungen einzelner Akteure untereinander und in die Politik und die Presse.
Die Ausführungen sind oft mit einem anklagenden Grundton verfasst, sie wollen die Schuldigen für die erheblichen wirtschaftlichen Verluste vieler kleiner Aktienanleger benennen.
„Die Spiel- und Gewinnsucht (...) war (...) ursprünglich nicht vorhanden, sondern sie wurde von den Gründern und Börsianern erst künstlich erzeugt, mit unzähligen Mitteln fortwährend genährt. Die „kleinen Leute“ namentlich, und selbst die gewöhnlichen Bürgerclassen, hatten bis 1870 von der ganzen Börse nur eine schwache Ahnung; sie kannten Actien kaum dem Namen nach, und der Courszettel war ihnen eine Tafel mit Hieroglyphen. Sie verwahrten ihre Ersparnisse im alten Strumpf; sie gaben ihr Geld auf die Sparcasse oder auf Grundstücke – bis der Gründungsschwindel auch sie aufblicken ließ, auch sie in seinen Strudel zog.
Jedes Blatt und jedes Blättchen legte sich einen Courszettel zu, errichtete eine ständige Rubrik für Börsennachrichten, brachte im Inseraten- wie im redactionellen Theil täglich Reclamen für neue Gründungen und neue Actien. Es entstand plötzlich eine neue Classe von Reisenden, der Börsenreisende für Stadt und Land, welcher von Haus zu Haus ging, in die Keller und in die Dachkammern stieg und seine – Actien anbot. Die Börse hatte überall, im kleinsten Städtchen und im abgeschiedensten Dörfchen ihre Agenten, welche dem Handwerker, dem Bauern dieses oder jenes Börsenpapier aufredeten, indem sie ihm Himmel und Erde versprachen und ihn gläubig, ihn sicher machten durch die Unterschriften, durch die stolzen vornehmen oder doch wohlcreditirten Namen, welche die Actie trug. Was Wunder, wenn die schlichten, ehrlichen Leute sich verlocken ließen und, durch kleine Gewinne vollends geködert, allmählich ihre ganze Habe der Börse in den Rachen warfen![1]“
Dabei enthalten sie auch mehrere antisemitische Passagen, da viele der beteiligten Geschäftsleute jüdischer Herkunft waren. So behauptete Glagau:
„Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, dass ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerirte Race, blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher, über den Erdkreis gebietet. […] Vom getauften Minister bis zum polnischen Schnorrer bilden sie eine einzige Kette; machen sie, fest geschlossen, bei jeder Gelegenheit Front gegen die Christen.“
Glagau identifizierte den Kapitalismus (von ihm Manchestertum genannt) mit dem Judentum, dem er somit unterstellte, Kleinbetriebe und Handwerk zu ruinieren und andere für sich arbeiten zu lassen statt selbst zu arbeiten: Die soziale Frage ist wesentlich Gründer und Judenfrage, alles andere ist Schwindel.[2]
Heutige Bewertung
Die Texte hatten antijüdischen Formulierungen und Einschätzungen auf Grund der großen Verbreitung der Bücher einen großen Einfluss auf den wachsenden Antisemitismus dieser Zeit in Deutschland.[3]
Ausgaben
- Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, in Die Gartenlaube, 1874, 1875, 12 Artikel Wikisource: Texte – Quellen und Volltexte
- Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der „Gartenlaube“. 2 Bände
- [Band 1] Leipzig 1876 Archive Visual Library
- [Band 2] Leipzig 1877 Archive Google
Literatur
- Anna Rothfuss: Korruption im Kaiserreich. Skandale und Debatten zwischen 1871 und 1914. V & R unipress, Göttingen 2009. S. 96
Einzelnachweise
- Brief von Otto Glagau an die Redaction der Gartenlaube über seine Hintergründe für die Texte, in Die Gartenlaube, 20, 1875, S. 343 Wikisource: Text – Quellen und Volltexte
- Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten. Reclam, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-15-020533-4, S. 52 f.
- Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 6. Publikationen. Walter de Gruyter, Berlin, 2013, S. 225, betonte den möglichen Einfluss der Bücher auf den wachsenden Antisemitismus in dieser Zeit