Christa Stolle
Christa Stolle (* 1959 in Visbek, Niedersachsen) ist eine deutsche Menschenrechtsaktivistin, Ethnologin und seit 1990 Bundesgeschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes – Menschenrechte für die Frau e. V.
Werdegang
Ihre Kindheit verbrachte Christa Stolle mit vier Geschwistern auf dem ländlichen Hof ihrer Eltern bei Oldenburg. Die Allgemeine Hochschulreife erlangte sie an einem katholischen Mädchengymnasium. Dort wurde sie geprägt durch junge Lehrerinnen, die ihre Politisierung vorantrieben und sie in den Kontakt mit moderner Literatur brachten. Unter anderem inspirierten Stolle diese Erfahrungen zu einem Auslandsjahr in den USA.[1]
Christa Stolle studierte Ethnologie, Volkskunde, Geografie und Empirische Kulturwissenschaft in Bonn und Tübingen mit Magisterabschluss.[2] Ihrer Meinung nach müsse man der „anderen Kultur natürlich auf Augenhöhe begegnen“. Dies bedeute allerdings nicht, „einer so grausamen Tradition gegenüber neutral [zu] sein“.[3] Zunehmend interessierten Stolle weltpolitische Themen, mit einem besonderen Fokus auf dem Feminismus.
Arbeit bei Terre des Femmes
Von 1987 bis 1990 arbeitete Stolle ehrenamtlich im Vorstand von Terre des Femmes.
Die ersten Erfahrungen mit professionellem Aktionismus und medialer Präsenz sammelte Stolle durch die Solidaritätskampagne von Terre des Femmes für koreanische TextilarbeiterInnen, die für die deutsche Textilfirma Adler arbeiteten. Die in der Mehrzahl weiblichen Arbeiter forderten höhere Löhne, kürzere und geregelte Arbeitszeiten, eine freie Gewerkschaft und Gemeinschaftseinrichtungen wie einen Pausenraum. Konfliktive Situationen entstanden hierbei unter anderem durch die Übernahme des Themas durch die feministischen Untergrundgruppen „Rote Zora“ und „Amazonen“, die die friedliche Organisationsarbeit von Terre des Femmes in Misskredit brachte und die Öffentlichkeitsarbeit und den Verhandlungsprozess mit dem Unternehmen erschwerte. Dieser war schließlich erfolgreich, als Stolle mit anderen Aktivistinnen im November und Dezember 1987 nach Korea reiste, um sich ein Bild „von den Zugeständnissen […], die Adler im September gemacht hatte“ zu verschaffen.[4]
Das Engagement für Terre des Femmes wurde in diesem Zeitraum zu einer arbeitsintensiven Aufgabe. Oft kam es zu einem „Drahtseilakt zwischen gesellschaftlichem Engagement und Privatleben“. Deshalb beantragte der Vorstand eine ABM-Stelle beim Arbeitsamt Tübingen, um die Frauenrechtsarbeit langfristig professionalisieren zu können. Der Antrag wurde zwar zunächst abgelehnt, aber im Rahmen eines zweiten Versuchs im Jahre 1990 bewilligt. Stolle hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Studium abgeschlossen und wurde im Anschluss daran zur ersten hauptamtlichen Mitarbeiterin mit geschäftsführenden Aufgaben für den Verein.[5] 20 Jahre blieb die Bundesgeschäftsstelle in Tübingen, bevor sie 2011 nach Berlin verlegt wurde.
2004 übernahm Stolle auch die Geschäftsführung für die im gleichen Jahr gegründete Förderstiftung von Terre des Femmes.[6]
Stolle formte die Frauenrechtsarbeit von Terre des Femmes maßgeblich und baute kontinuierlich neue Arbeitsfelder auf. Sie gründete bereits in der Anfangszeit des Vereins das Referat „Frauenrechte in islamischen Gesellschaften“ und startete die Kampagne „Gewalt im Namen der Ehre“. Auch die jährlich seit 2001 bundesweit stattfindende Fahnenaktion von Terre des Femmes zum Internationalen Tag „NEIN zu Gewalt an Frauen!“ setzte sie gegen Widerstand innerhalb des Vereins durch.[7]
Heute leitet sie die Bundesgeschäftsstelle mit fast 40 hauptamtlichen MitarbeiterInnen und leitet als geschäftsführende Vorstandsfrau zusammen mit vier ehrenamtlichen Vorstandsfrauen einen Verein mit rund 2200 stimmberechtigten Mitfrauen, 3.500 regelmäßigen UnterstützerInnen und 300 ehrenamtlich Aktiven.[8] Wichtig ist Stolle eine strikt säkulare Position und die politische Unabhängigkeit des Vereins, die durch die hauptsächliche Finanzierung durch Spenden und Mitgliedsbeiträge gewährleistet wird.[9]
Kontroversen
Christa Stolle versteht sich als Feministin und wendet sich entschieden gegen Kulturrelativismus und religiös begründete Geschlechterapartheid.[10] Sie ist Urheberin der seit 2017 laufenden Kampagne „Den Kopf freihaben“. Den zähen Start der Kampagne sieht Stolle als Beleg für die „Angst vor Rechtspopulist*innen“[11] und verlängerte den Aktionszeitraum unbegrenzt, statt z. B. mit Pädagogen in kritischen Punkten eine gemeinsame Position zu suchen.[12] Für die Forderung, dass per Gesetz muslimischen Mädchen ein Teil ihrer Kleidung verboten werden soll, wurden Stolle und Terre des Femmes als „menschenfeindlich“ kritisiert.[13] Auch innerhalb des Vereins stieß diese Haltung auf Kritik, und mehrere Mitglieder traten aus,[14] nachdem bekannt geworden war, dass ca. 30 Mitgliedsanträge von intersektionalen Feministinnen kalkuliert nicht bearbeitet worden waren, weil dies die gewünschten Mehrheitsverhältnisse hätte gefährden können.[15] Sowohl die Kampagne für ein Kopftuchverbot als auch die Forderung nach einem Sexkaufverbot durch Terre des Femmes Deutschland stellte sich als unvereinbar mit den Positionen von Terre des Femmes Schweiz heraus, so dass sich der Verein spaltete.[16]
Auszeichnungen
2012 wurde Christa Stolle für ihr langjähriges Engagement für die Rechte von Mädchen und Frauen für den Women of Courage Award nominiert. Im Oktober 2013 wurde ihr dann durch den Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht.[17] Am 1. Oktober 2019 erhielt sie den Verdienstorden des Landes Berlin.[18]
Publikationen (Auswahl)
- mit Ute Koczy, Jai Sin Pak: Made in Korea. Adler-Textilarbeiterinnen wehren sich gegen deutsche Ausbeutung. Magazin Verlag, Göttingen 1989, ISBN 3-925900-61-6.
- Hier ist ewig Ausland. Lebensbedingungen und Perspektiven koreanischer Frauen in der Bundesrepublik Deutschland. Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin 1990, ISBN 3-927408-49-2.
- Von der Hand in den Mund leben. Zehn Jahre Bundesgeschäftsstelle. In: Terre des Femmes e. V. (Hrsg.): Widerstand ist ein Geheimnis des Glücks. Terre des Femmes e. V., Tübingen 2001, ISBN 3-9806165-4-1.
- mit Heike Robben: Zum Beispiel Frauenrechte. Lamuv Verlag, Göttingen 2004, ISBN 3-88977-646-9.
- Geschlechtsspezifische Gewalt – Der lange Weg zur Gleichberechtigung. In: Isabel Rohner, Rebecca Beerheide (Hrsg.): 100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht! … und weiter?. Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2017, ISBN 978-3-89741-398-6.
Weblinks
Einzelnachweise
- Christa Stolle, Menschenrechtlerin. Abgerufen am 7. Februar 2020.
- Lebenslauf Christa Stolle. (PDF) In: TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e. V. TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e. V., Februar 2017, abgerufen am 5. Februar 2020.
- Christa Stolle, Menschenrechtlerin. Abgerufen am 7. Februar 2020.
- TERRE DES FEMMES: Widerstand ist ein Geheimnis des Glücks. Hrsg.: TERRE DES FEMMES. Tübingen 2001, ISBN 3-9806165-4-1.
- TERRE DES FEMMES (Hrsg.): Widerstand ist ein Geheimnis des Glücks. Tübingen 2001, ISBN 3-9806165-4-1.
- Lebenslauf Christa Stolle. (PDF) In: TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e. V. Februar 2017, abgerufen am 5. Februar 2020.
- TERRE DES FEMMES (Hrsg.): Widerstand ist ein Geheimnis des Glücks. Tübingen 2001, ISBN 3-9806165-4-1.
- TERRE DES FEMMES (Hrsg.): Flyer: „TERRE DES FEMMES – Aktiv für Mädchen und Frauen“. Berlin.
- TERRE DES FEMMES (Hrsg.): Widerstand ist ein Geheimnis des Glücks. Tübingen 2001, ISBN 3-9806165-4-1.
- Simone Schmollack: 25 Jahre „Terre des Femmes“: Im Namen des Gewissens. In: Die Tageszeitung: taz. 31. Oktober 2015, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 7. Februar 2020]).
- Simone Schmollack: Kopftuchstreit bei Terre des Femmes. 23. August 2018, abgerufen am 1. April 2021.
- Edith Kresta: Mit erhobenem Haupt. taz, 9. Mai 2019, abgerufen am 1. April 2021.
- Meridith Haaf: Wie islamfeindlich ist der Feminismus? Süddeutsche Zeitung, 12. Juli 2017, abgerufen am 1. April 2021 (deutsch).
- Simone Schmollack: Kopftuch-Antrag in der Kritik. taz, 23. Juni 2017, abgerufen am 1. April 2021.
- Alexandra Eul: Unterwanderungsversuch bei Terre des Femmes. EMMA, 26. Juni 2017, abgerufen am 1. April 2021.
- Patricia Hecht: Die Scheidung der Schwestern. taz, 26. Juli 2018, abgerufen am 1. April 2021.
- Simone Schmollack: 25 Jahre „Terre des Femmes“: Im Namen des Gewissens. In: Die Tageszeitung: taz. 31. Oktober 2015, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 7. Februar 2020]).
- Zweiter Verdienstorden für Christa Stolle. Abgerufen am 7. Februar 2020.