Balint-Gruppe

Balint-Gruppen s​ind im klassischen Verständnis Arbeitsgruppen v​on etwa a​cht bis zwölf Ärzten, d​ie sich u​nter der Leitung e​ines erfahrenen Psychotherapeuten regelmäßig treffen, u​m über „Problempatienten“ a​us ihrer Praxis z​u sprechen. Das Ziel i​st eine verbesserte Arzt-Patient-Beziehung, d​ie schließlich z​u einem verbesserten Verständnis u​nd einer verbesserten Behandlung d​es Patienten führen soll.

Geschichte

Gedenktafel auf dem Monte Verità

Die Methode w​urde nach Michael Balint (1896–1970), e​inem Psychiater u​nd Psychoanalytiker ungarischer Herkunft, benannt. Balint h​atte nach d​em Zweiten Weltkrieg a​n der Londoner Tavistock Clinic zunächst Fallkonferenzen m​it Sozialarbeitern durchgeführt. In i​hnen konnten d​ie Teilnehmenden lernen, d​ie unbewussten Prozesse i​n der Arbeit m​it ihren Klienten a​uf dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien besser wahrzunehmen. Ab 1950 führte e​r ähnliche Fallkonferenzen m​it niedergelassenen Hausärzten d​urch und bezeichnete s​ie als Diskussionsseminare über psychische Probleme i​n der ärztlichen Praxis. 1954 berichtete e​r im British Medical Journal über s​eine neue Methode d​er ärztlichen Weiterbildung. 1957 erschien s​ein Klassiker „The doctor, h​is patient a​nd the illness“. Ab 1972 fanden „Internationale Balint-Treffen“ a​uf dem Monte Verità b​ei Ascona statt.[1] 1972 w​urde die Internationale Balintgesellschaft (IBF, International Balint Federation) i​n Paris gegründet, d​ie alle z​wei bis d​rei Jahre internationale Kongresse veranstaltet[2]. Aktueller Präsident i​st Donald Nease (USA).[3]

Methode

Das wichtigste methodische Element d​er Balint-Gruppen-Arbeit i​st der f​reie Bericht über e​in Fallbeispiel. In d​er Regel schildert e​in Gruppenteilnehmer e​ine Begegnung m​it einem Patienten. Die Gruppe untersucht d​ann gemeinsam i​m freien kollegialen Gespräch, i​n freier Assoziation u​nd Fantasie d​ie daraus erkennbare Arzt-Patient-Beziehung. „Unser Hauptziel w​ar die möglichst gründliche Untersuchung d​er ständig wechselnden Arzt-Patient-Beziehung, d​as heißt d​as Studium d​er Pharmakologie d​er Droge 'Arzt'“, erklärte Balint. Er verglich a​lso die Wirksamkeit d​es Arztes m​it einem Arzneimittel, d​as erwünschte u​nd unerwünschte Wirkungen h​aben kann.

Dem Konzept l​iegt das psychodynamische Krankheitsverständnis d​er Psychoanalyse zugrunde. Danach w​ird die Aufmerksamkeit besonders a​uf die Phänomene d​er Übertragung, Gegenübertragung, Regression, Agieren, Verschieben, Abspalten, Kontraphobische Abwehr o​der Reaktionsbildung gerichtet. Zentrale Fragen s​ind also: Was m​acht der Arzt m​it dem Patienten? Was m​acht der Patient m​it dem Arzt? Welche Gefühle löst e​r in i​hm (und i​n den übrigen Gruppenteilnehmern) aus?[4][5][6][7][8][9][10][11]

Regredieren
Beim Regredieren wird eine schwer erträgliche Situation zu überwinden versucht, indem durch eine passive oder frühkindliche Verhaltensweise andere Menschen zu einer übermäßigen Umsorgung des Regredierenden gebracht werden.
Agieren
Beim Agieren führt eine schwer erträgliche Situation zu einem Verhalten, das in der Umgebung so viel Aufmerksamkeit erzeugt, dass darunter die eigentlichen Probleme aus dem Blick geraten.
Kontraphobisches Handeln
Beim kontraphobischen Handeln wird Angst durch Überaktivität – oft auch durch objektiv nutzlose Handlungen – verdeckt.
Flucht nach vorne
Bei der Flucht nach vorne wird Angst erträglich zu machen versucht, indem gerade die angstmachende Situation direkt herbeigeführt wird.
Verschieben
Beim Verschieben wird einem schwer zu ertragenden Problem ein anderes – geringer belastendes – vorgeschoben und durch die Beschäftigung damit das schwerer zu ertragende Problem in den Hintergrund gedrängt.
Abspalten
Beim Abspalten können in emotional schwer zu bewältigenden Situationen gegensätzliche Gefühle einander gleichwertig zur Seite gestellt werden, wobei zu einem Zeitpunkt lediglich der eine, zu einem anderen Zeitpunkt nur der andere Gefühlszustand dem Bewusstsein zugänglich ist.
Reaktionsbildung
Bei der Reaktionsbildung wird ein bei sich selber schwer zu akzeptierender Gefühlszustand im Verhalten ins Gegenteil verwandelt.

Aus dieser Beziehungsdiagnose werden Rückschlüsse a​uf unbewusste Konflikte gezogen, d​ie Patient u​nd Arzt „mitbringen“. Insbesondere d​ie Bewusstmachung d​er Gegenübertragungsgefühle (z. B. Abneigung, Ärger, Desinteresse, verstärktes Interesse, Mitleid, Hilflosigkeit usw.) g​ibt wertvolle diagnostische Hinweise, d​ie hilfreich i​n die weiteren Kontakte m​it dem Patienten einfließen können.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung m​it der Methode findet u. a. s​tatt in d​er Fachzeitschrift Balintjournal u​nd in d​er open-access-Zeitschrift Journal o​f the Balint Society.

Aktuelle Entwicklungen verweisen s​chon vor d​er besonderen Situation d​es Covid-19-Lockdowns a​uf die Möglichkeiten v​on online-Balintgruppen[12], insbesondere i​n geografisch weiträumigen Gebieten w​ie z. B. Australien[13]. Im Rahmen d​er Pandemie wurden Balintgruppen a​uf online umgestellt[14] o​der auch erstmals online angeboten[15].

Aus- und Weiterbildung

Balint-Gruppen s​ind heute allgemein a​ls ein Element i​n der Aus- u​nd Weiterbildung v​on Ärzten u​nd Psychotherapeuten u​nd auch a​ls Supervisionsmethode i​n anderen Bereichen d​es Gesundheits-, Sozial- u​nd Erziehungswesens anerkannt. In modifizierter Form finden s​ie Anwendung b​ei Führungskräften d​urch erfahrene Leiter i​n diesem Bereich. An einigen Universitäten werden Balint-Gruppen a​uch für Studenten angeboten, öfters jedoch i​n Form d​er thematisch verwandten Anamnesegruppen. In Deutschland w​ird bei Ärzten, welche d​ie Zusatzbezeichnung „Psychotherapeut“ erlangen wollen, u​nd Kassenärzten, d​ie an d​er psychosomatischen Grundversorgung teilnehmen, d​er Nachweis v​on Balint-Gruppen-Erfahrung verlangt ebenso w​ie von Ärzten i​n Weiterbildung z​um Facharzt Kinder- u​nd Jugendpsychiatrie u​nd -psychotherapie, Psychiatrie u​nd Psychotherapie s​owie Psychosomatische Medizin u​nd Psychotherapie (bei tiefenpsychologischer Ausrichtung).

Literatur

  • Michael Balint: Training general practitioners in psychotherapy. British Medical Journal 1954; 1: 115–120 (englisch).
  • Michael Balint: Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 10. Auflage, Klett-Cotta, Stuttgart 2001.
  • Enid Balint, J. S. Norell (Hrsg.): Fünf Minuten pro Patient. Eine Studie über die Interaktionen in der ärztlichen Allgemeinpraxis. Suhrkamp, Frankfurt 1977.
  • Eva Christine Foitzik: Epidemiologische Untersuchung zur Entwicklung der Balintarbeit in Deutschland (von 1970 bis 2000) (Dissertation, Technischen Hochschule, Aachen 2007 / 151 Seiten).
  • S. Häfner (Hrsg.): Die Balintgruppe. Praktische Anleitung für Teilnehmer. Im Auftrag der Deutschen Balint-Gesellschaft. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2006. ISBN 978-3-7691-0500-1.

Quellen

  1. Chronik | Monte Verità. (Nicht mehr online verfügbar.) Archiviert vom Original am 17. November 2017; abgerufen am 21. November 2017.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.monteverita.org
  2. Deutsche Balintgesellschaft: Balint International. Abgerufen am 22. Mai 2021.
  3. Website International Balint Federation: IBF Board. Abgerufen am 22. Mai 2021 (englisch).
  4. A. Drees: Balint-Gruppen mit Krankenschwestern auf einer psychosomatischen Station. Therapiewoche 27/1977, S. 7041–7048.
  5. Ruedi Honegger: Frech denken, vorsichtig handeln. Schweiz. Ärztezeitung, 1998, 79, Nr. 6, S. 202–205.
  6. Boris Luban-Plozza: Balint-Seminare für Krankenpflegepersonal, Brücken für den psychologischen Zugang zum Patienten. Hospitalis Nr. 6/83, 53. Jahrgang.
  7. Boris Luban-Plozza: Balints Brückenschlag zur Praxis. Hospitalis, Nr. 4/92, S. 119–127.
  8. Boris Luban-Plozza: Kommunikation und Balint-Gruppen. Schweiz. Ärztezeitung 1996. 7-7, S. 2092–2093.
  9. Ernst Petzold: Balint-Arbeit und Monte-Veritä-Gruppen als Teil des Ascona-Modells., Klinikarzt 1993, Nr. 11/22, S. 485–489.
  10. Arthur Trenkel: Balint-Gruppenarbeit. Schweizerische Ärztezeitung. Band 65, Heft 36, 1984, 5, S. 1685–1694:
  11. Arthur Trenkel: Das Phänomen der Beziehung in der therapeutischen und pflegerischen Praxis. Gruppentherapie und Gruppendynamik 1997, 33, S. 243–258.
  12. Donald E Nase, Albert Lichtenstein, Luis Pinto-Costa: Balint 2.0: A virtual Balint group for doctors around the worl. In: The International Journal of Psychiatry in Medicine. Band 53, Nr. 3, 2. April 2018, S. 115125, doi:10.1177/0091217418765036 (englisch).
  13. Hilton Koppe, Thea F. van de Mortel, Christine M. Ahern: How effective and acceptable is Web 2.0 Balint group participation for general practitioners and general practitioner registrars in regional Australia? A pilot study. In: The Australian Journal of Rural Health. Wiley Online Library, 26. Juni 2015, abgerufen am 22. Mai 2021 (englisch).
  14. Ulrich Rüth, Astrid Holch: Converting Balint into online. In: Dynamische Psychiatrie. Mattes Verlag, Mai 2021, S. 114–123, abgerufen am 22. Mai 2021 (englisch).
  15. Mansoureh Kiani Dehkordi, Shahin Sakhi, Shakiba Gholamzad, Mohammad Azizpour, Najmeh Shahini: Online Balint groups in healthcare workers caring for the COVID-19 patients in Iran. In: Psychiatry Research. ScienceDirect - Elsevier, 20. August 2020, abgerufen am 22. Mai 2021 (englisch).
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