Auschwitz-Protokolle
Als Auschwitz-Protokolle wurden im angelsächsischen Raum in der Nachkriegszeit drei Berichte bezeichnet, die von fünf ehemaligen KZ-Häftlingen stammen. Diese Berichte aus dem Jahre 1944 informierten über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und die dort stattfindende fabrikmäßige Ermordung von Juden aus ganz Europa.
Zwei dieser Berichte veröffentlichte das War Refugee Board, Executive Office of the President am 26. November 1944 als Druck; dabei wurde der Bericht von Rosin und Mordowicz als Teil 3 an den Bericht von Vrba und Wetzler angefügt. Dieses 30-seitige Dokument wird auch Vrba-Wetzler Report, Vrba-Wetzler-Bericht oder Auschwitz notebook genannt. Die Berichte sind fast vollständig wiedergegeben; einige wenige Streichungen – so auch die Namen der Berichterstatter – erfolgten, um lebende Personen zu schützen.[1]
Einzelheiten
Die sogenannten Auschwitz-Protokolle bestehen aus drei verschiedenen Teilen:
- einer Übersetzung dessen, was zwischen dem 23. und 25. April 1944 von Walter Rosenberg alias Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler dem aus Bratislava geholten Vertreter des slowakischen Judenrats, Oskar (Jirmejahu) Neumann, berichtet und von Oscar (Karmil) Kraszniansky protokolliert und zugleich ins Deutsche übersetzt wurde.[2] Dieser Bericht wurde anonymisiert an den päpstlichen Nuntius von Bratislava, den amerikanischen Botschafter in Genf, den World Jewish Congress, die Jewish Agency in Istanbul sowie die Weltzentrale des Hechaluz in Genf geschickt und schon durch diese verbreitet, bevor es durch den WRB einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde;[3]
- einem mehrseitigen Bericht von Arnost Rosin und Czesław Mordowicz, zwei kurz nach Vrba und Wetzler am 27. Mai 1944 ebenfalls aus Auschwitz Entflohenen.[4][5] Der Bericht wurde Mitte Juni 1944 im Beisein von Vrba, Wetzler und Kraszniansky in – vermutlich – slowakischer Sprache abgefasst und ins Englische übertragen;[6]
- dem Bericht[7] von Jerzy Tabeau, der am 19. November 1943 aus Auschwitz geflohen war. Sein Bericht erreichte im April 1944 die Schweiz. Der Bericht wurde Anfang 1944 von zwei namentlich bekannten Untergrundaktivisten über die Slowakei in die Schweiz gesandt. Im April 1944 wurde er vom ständigen Vertreter der Tschechoslowakei, dem US-Gesandten in Bern, dem US-Vertreter des War Refugee Board und Gerhard Rieger vom Jüdischen Weltkongress zur Kenntnis gebracht.[8] Von dort gelangte er in die USA und wurde im November 1944 anonym als „Bericht eines polnischen Majors“ veröffentlicht.
Wirkung
Schon vor Beginn der Deportationen hatte der Bericht von Vrba und Wetzler führende jüdische Repräsentanten in Ungarn erreicht. Die Informationen wurden aber nicht verbreitet, weil der Judenrat Panikreaktionen befürchtete und Zusagen Eichmanns vertraute.[9]
Vrba beklagt, „daß in der Zeit vom 15. Mai bis zum 7. Juli 1944 die zur Deportation Bestimmten, die der Warnungen des Vrba-Wetzler-Berichts am meisten bedurft hätten, über ihr Schicksal im Dunkeln gehalten wurden.“[10] Tatsächlich erwähnt der Bericht aber nicht den Baubeginn einer neuen Rampe im Vernichtungslager und warnt auch nicht explizit vor einer anstehenden Massendeportation. Vrba stellt dar, Krasnyanskie habe in der Schlussfassung nur Fakten von geschehenen Massenmorden, nicht aber „Vorhersagen“ und „Prophezeiungen“ aufnehmen wollen. Er habe aber zugesichert, die jüdischen und andere Autoritäten würden jedenfalls sofort über alle mündlich berichteten Einzelheiten der Vorbereitung des Massenmords an den ungarischen Juden unterrichtet werden.[11]
Nach Auffassung Vrbas führte die Veröffentlichung des Berichts zu einer Pressekampagne, die schließlich Horthy veranlasste, die Deportationen am 7. Juli 1944 zu stoppen.[12] Andere halten die Einsicht Horthys, der Krieg sei für die Deutschen und ihre Verbündeten verloren, für seine Entscheidung ausschlaggebend, wobei auch die Bombardierung Budapests am 2. Juli 1944 eine Rolle gespielt habe.[13]
Der Anklagevertreter William F. Walsh legte das Dokument am 14. Dezember 1945 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess vor und erklärte: „Es ist ein amtlicher Bericht der Regierung der Vereinigten Staaten, der von der Kanzlei des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Abteilung Kriegsflüchtlinge, über die deutschen Lager in Auschwitz und Birkenau im Jahre 1944 herausgegeben wurde.“[14] Walsh zitierte daraus nach dem Protokoll lediglich eine geschätzte Angabe zur Zahl der bis April 1944 vergasten Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.[15]
Siehe auch
Literatur
- über die Protokolle
- John Conway: Frühe Augenzeugenberichte aus Auschwitz – Glaubhaftigkeit und Wirkungsgeschichte. In: VfZ 27(1979), H. 2, S. 260-284
- Kapitel The Auschwitz Protocols, in: Randolph L. Braham: The politics of genocide. The Holocaust in Hungary. Columbia University Press, New York 1981, S. 708–716 (englisch).
- Robert Rozett: Art. Auschwitz Protocols. In: Israel Gutman (Hrsg.): Encyclopedia of the Holocaust, Band 1: A – D. Macmillan, New York 1990, ISBN 0-02-896090-4, S. 121–122 (englisch).
- Henryk Świebocki (Hrsg.): „London wurde informiert …“ Berichte von Auschwitz-Flüchtlingen. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau, Oświęcim 1997, ISBN 83-85047-64-6 (darin ist unter anderem der Vrba-Wetzler-Bericht mit ergänzenden Fußnoten des Herausgebers enthalten).
- Rudolf Vrba: Die mißachtete Warnung. Betrachtungen über den Auschwitz-Bericht von 1944. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 1, S. 1-24
- über die Autoren
- Konstanty Piekarski: Escaping Hell. The Story of a Polish Underground Officer in Auschwitz and Buchenwald, P 4618. Dundurn, Toronto 1990, ISBN 1-55002-071-4 (englisch).
- allgemein
- Edward Ciesielski: Wspomnienia Oświęcimskie [Auschwitz Memoiren], Kraków 1968 (polnisch).
- Józef Garliński: Fighting Auschwitz. The Resistance Movement in the Concentration Camp. Friedmann, London 1975, ISBN 0-449-22599-2 (englisch).
- Wincenty Gawron: Ochotnik do Oświęcimia (Freiwilliger in Auschwitz), Calvarianum, Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau, Oświęcim 1992, ISBN 83-85047-03-4 (polnisch).
- Adam Cyra, Wiesław Jan Wysocki: Rotmistrz Witold Pilecki. Oficyna Wydawnicza Volumen, Warschau 1997. ISBN 83-86857-27-7 (Biografie über Witold Pilecki; polnisch).
Film
- Mark Hayhurst (Regie): 1944: Bomben auf Auschwitz? Dokumentation mit Spielszenen auf der Basis historischer Zitate und Interviews mit Zeitzeugen. Deutschland, 2019, Erstsendung am 21. Januar 2020 (Film online; Informationen zum Film).
Weblinks
- John S. Conway: „The first report about Auschwitz“, Museum of Tolerance, Simon Wiesenthal Center, Annual 1 Chapter 07, abgerufen am 11. September 2006 (englisch).
- „The Full-Text of the Vrba Wetzler Report“, „The Holocaust Education & Archive Research Team“ (englisch).
- Q & A zum „Vrba Wetzler Report“, The Holocaust History Project, 2. April 2006 (englisch).
Einzelnachweise
- Anschreiben siehe Dokument VEJ 16/154 in: Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung), Band 16 : Das KZ Auschwitz 1942- 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. Berlin 2018, ISBN 978-3-11-036503-0, S. 510–511.
- neuerlich abgedruckt als Dokument VEJ 16/108 in: Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung), Band 16 : Das KZ Auschwitz 1942- 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. Berlin 2018, ISBN 978-3-11-036503-0, S. 334–357 mit S. 49/ Alfréd Wetzler bzw. Lánik, Jozef: Oswiecim hrobka styroch miliónov ludi: krátka história a zivot v oswiecimskom pekle v rokoch 1942–1945 (polnisch). (deutsch: Auschwitz, Grab von 4 Millionen Menschen. Enthält auch den Vrba-Wetzler-Bericht.) Bratislava, Verlag Vyd. Poverenictvo SNR pre informácie. 1946, 73 Seiten; deutschsprachiger Auszug: Ein geflüchteter Häftling berichtet, in Hans Günther Adler, Hermann Langbein, Ella Lingens-Reiner (Hrsg.): Auschwitz. Zeugnisse und Berichte. Schriftenreihe 1520. Bundeszentrale für politische Bildung BpB, 6. Aufl. Bonn 2014 ISBN 3-8389-0520-2, S. 194–202 (Zuerst 1962). Der gesamte Bericht wurde als „Amtliches Dokument NG-2061“ im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in die Dokumentensammlung des Prozesses aufgenommen.
- VEJ 16/108, S. 354 mit Anmerkung 5 sowie S. 49–50.
- Dokument VEJ 16/119 in: Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung), Band 16 : Das KZ Auschwitz 1942- 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. Berlin 2018, ISBN 978-3-11-036503-0, S. 417–421.
- The Globe and Mail: Auschwitz escapee told the world about Nazi genocide (englisch).
- VEJ 16/119, S. 417 Anmerkung 3 sowie Rudolf Vrba: Die mißachtete Warnung... In: VfZ 44 (1996), H1, S. 13f.
- Dokument VEJ 16/91 in: Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Quellensammlung), Band 16 : Das KZ Auschwitz 1942- 1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. Berlin 2018, ISBN 978-3-11-036503-0, S. 298–315.
- VEJ 16/91 S. 299 mit Anmerkung 3.
- Regina Fritz (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden..., Band 15: Ungarn 1944–1945, München 2021, ISBN 978-3-11-036502-3, S. 71.
- Rudolf Vrba: Die mißachtete Warnung. Betrachtungen über den Auschwitz-Bericht von 1944. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 1, S. 22.
- Rudolf Vrba: Die mißachtete Warnung... In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 1, S. 18.
- Rudolf Vrba: Die mißachtete Warnung... In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 1, S. 13.
- Regina Fritz (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden..., Band 15: Ungarn 1944–1945, München 2021, ISBN 978-3-11-036502-3, S. 71
- IMT: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher …, München 1984, ISBN 3-7735-2502-8, Bd. 3, S. 634.
- Als Dokument 022-L ist die S. 33 abgedruckt in IMT: Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher …, Nachdr. München 1989, ISBN 3-7735-2527-3, Bd. 37 (= Dokumentenband 13), S. 433 .