Antizipation (Stilistik)

Die Antizipation (lat. anticipātiō „die Vorwegnahme“) bzw. Prolepse (altgriechisch πρόληψις prólēpsis, deutsch Vorwegnahme) bezeichnet i​n der Terminologie d​er neuzeitlichen (!) Stilistik[1] „häufig i​n der Dichtung, besonders i​n der griechischen Tragödie, e​ine Eigenschaft, d​ie dem regierenden Substantiv n​och nicht zukommt, sondern d​urch die Verbalhandlung e​rst entsteht“,[2] a​lso die Vorwegnahme e​ines Ereignisses, e​iner Absicht o​der Folge

  • in einem adjektivischen Attribut oder einem Partizip, als wäre das Ereignis bereits eingetreten; vgl. Vergil, Aeneis I,69: submersas … obrue puppis – „Zerstöre die versenkten Hecke/Schiffe“ = „zerstöre die Schiffe durch Versenken“; bzw.
  • durch ein Substantiv; dann „wird gewöhnlich das Subjekt einer untergeordneten Satzeinheit herausgelöst und als Objekt in die übergeordnete Satzkonstruktion eingefügt“.[3] Vgl. Herodot 3,68,2: Ὀτάνης πρῶτος ὑπόπτευεν τὸν μάγον, ώς οὐκ εἴη ὁ Κύρου Σμέρδις (Otánes prótos hypópteuen tón mágon, hós ouk eíe ho Kýrou Smérdis) – „Otanes hegte als erster den Verdacht, dass der Magier nicht Smerdis, der Sohn des Kyros sei.“

Gemäß d​er Terminologie d​er antiken Rhetorik könnte m​an auch v​on einem Anachronismus sprechen.

In d​er griechischen u​nd lateinischen Literatur d​er Antike verbreitet, w​urde es i​n der neuzeitlichen Dichtung wieder aufgenommen, i​n der deutschsprachigen Literatur besonders v​on Friedrich Schiller.

Beispiele:

  • εὔφημον, ὦ τάλαινα, κοίμησον στόμα [eúphemon, o tálaina, koímeson stóma] (Aischylos, Agamemnon 1247) – Unglückliche, bringe zur Ruhe deinen stummen Mund = bringe zur Ruhe deinen Mund, so dass er schweigt.[4]
  • ere human statute purg'd the gentle weal (Shakespeare, Macbeth 3,4,75) = purged the commonwealth and thus made it gentle.[5]
  • Blindwütend schleudert selbst der Gott der Freude / Den Pechkranz in das brennende Gebäude (Schiller, Wallenstein, Die Piccolomini) – Das Gebäude wird durch den Pechkranz erst in Brand gesetzt.
  • Aber ihnen schloss auf ewig / Hekate den stummen Mund. (Schiller, Hero und Leander) – Sie verstummen erst dadurch, dass Hekate ihnen den Mund schließt.
  • Résolu d’accomplir ce cruel sacrifice, / J’y voulus préparer la triste Bérénice (Jean Racine, Bérénice; deutsch: „Entschlossen, dieses grausame Opfer zu bringen, wollte ich die traurige Bérénice darauf vorbereiten.“) – Bérénice wird erst nach der Unterrichtung durch Titus traurig sein.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. Vgl. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem, lib. III, 49 (Lyon 1561, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 126b–127a), der Sache nach unter der Bezeichnung praesumptio schon bei Beda Venerabilis, De arte metrica (Rhetores Latini minores, ed. Carolus Halm. Leipzig 1863, S. 608) und Isidor von Sevilla, Etymologiae I,36,2 (zit. bei M. Braun, Histor. Wörterbuch der Rhetorik 7 [2005], Sp. 198f.).
  2. Manfred Landfester: Einführung in die Stilistik der griechischen und lateinischen Literatursprachen. Darmstadt: WBG 1997, S. 111f.
  3. Zitat und folgender Beleg nach R. Plath: Prolepsis. In: DNP 10 (2001), Sp. 397.
  4. Beleg nach M. Landfester: Einführung in die Stilistik der griechischen und lateinischen Literatursprachen. Darmstadt: WBG 1997, S. 112.
  5. Phrase übernommen von H. Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik, § 316. München 1963, S. 102.
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