Anpassungsstörung
Eine Anpassungsstörung ist eine psychische Reaktion auf einmalige oder fortbestehende identifizierbare psychosoziale Belastungsfaktoren, die die Entwicklung klinisch bedeutsamer emotionaler oder verhaltensmäßiger Symptome zur Folge hat.[1]
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F43 | Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen |
F43.2 | Anpassungsstörungen |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Symptome
Die Symptome können sehr vielfältig sein und hängen individuell von der Person und dem als Belastung empfundenen Ereignis ab.
Folgende Symptome sind möglich:
- Gefühl von Bedrängnis
- emotionale Beeinträchtigung
- verändertes Sozialverhalten
- Probleme mit Nähe/Distanz
- evtl. sozialer Rückzug
- Gefühle der Leere
- Grübeln
- geistiges Verhaftetbleiben (Präokkupation)
- gesteigerte Sorge
- Freudlosigkeit
- Trauer
- Angst
- depressive Verstimmung
- Atemnot
- usw.
Die Anzeichen sind unterschiedlich und umfassen depressive Stimmung, Angst oder Sorge (oder eine Mischung von diesen), ohne jedoch so markant zu sein, dass die speziellen Diagnosen gegeben werden können. Außerdem kann ein Gefühl bestehen, mit den alltäglichen Gegebenheiten nicht zurechtzukommen, diese nicht vorausplanen oder fortsetzen zu können. Störungen des Sozialverhaltens können insbesondere bei Jugendlichen ein zusätzliches Problem sein.
Diagnose
Klassifikation nach ICD-10 | |
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F43.2 | Anpassungsstörung |
F43.20 | …kurze depressive Reaktion |
F43.21 | …verlängerte depressive Reaktion |
F43.22 | …Angst und depressive Reaktion, gemischt |
F43.23 | …mit vorwiegender Störung anderer Gefühle |
F43.24 | …mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens |
F43.25 | …mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten |
F43.28 | …mit sonstigen näher bezeichneten vorwiegenden Symptomen |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Diagnosekriterien für Anpassungsstörungen F43.2 (ICD-10-Forschungskriterien[2]):
A. Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.
B. Symptome und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) (außer Wahngedanken und Halluzinationen), bei Störungen des Kapitels F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) und bei den Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen. Die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren.
C. Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21). Bis zu einer Dauer von sechs Monaten kann die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt werden.
In den ICD-10-Anpassungen des Jahres 2016 wurde der bisherige allgemeine Code F43.2 durch Anhängen einer Ziffer in mehrere spezifischere Codes unterteilt.[3]
Synonyme
Synonyme für die Anpassungsstörung sind Hospitalismus bei Kindern, abnorme Trauerreaktion, Kulturschock.
Ursachen
Die Anpassungsstörungen sind Reaktionen auf Belastungen. Solche Belastungen können Beendigung einer Beziehung, Eheprobleme, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder Mobbing sein. Aber auch sogenannte kritische Lebensereignisse wie Schulwechsel, Auszug aus dem Elternhaus, Heirat, Geburt, Tod eines Angehörigen, Arbeitslosigkeit, Emigration und Pensionierung können bei mangelnder Bewältigungsfähigkeit eine Belastung sein und zu einer Anpassungsstörung führen. Weiterhin gilt dies für Ereignisse wie Flucht, Migration, Unfälle, Raub oder Operationen. Bei Kindern und Jugendlichen kann Vernachlässigung (siehe Hospitalismus und Deprivation) die Ursache sein.
Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle.
Häufigkeit
Wie bei allen psychischen Erkrankungen variiert die ermittelte Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) erheblich je nach untersuchter Population und Untersuchungsmethode. In der Stichprobe von Kindern, Jugendlichen und Älteren liegt sie demnach bei 2–8 %.[4]
In einer multizentrischen Studie in der europäischen Allgemeinbevölkerung wurde unter Anwendung der DSM-IV-Kriterien für die Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik eine Punktprävalenz von 0,6 % für Frauen und 0,3 % für Männer ermittelt. Bei Anwendung der ICD-10-Kriterien ergaben sich bei 18- bis 65-Jährigen mit 0,3 % niedrigere Raten.[5] In einer deutschlandweiten repräsentativen Studie von 14- bis 95-Jährigen fand man die Anpassungsstörung bei 0,9 % unter Anwendung neuer Forschungskriterien, die in Zukunft für das ICD-11 gültig sein werden.[6]
Differentialdiagnose
In der ICD 10 wird als Ausschlusskriterium das Nichtbestehen der Trennungsangst in der Kindheit (F93.0) spezifiziert.[7]
Es gibt verschiedene Störungen, die einer Anpassungsstörung auf den ersten Blick ähneln, so z. B. die Bindungsstörung, Borderline, der Autismus, das Asperger-Syndrom und die schizoide Persönlichkeitsstörung.
Eine Unterscheidung zu anderen Störungen ist häufig nur möglich, wenn sich der Betroffene nicht in einem Heim, einem Krankenhaus oder einer Anstalt befindet, also nicht in einem Milieu, das den Hospitalismus fördert. Wird der Betroffene in ein normales Milieu gebracht, bessert sich das Verhalten häufig nach einigen Monaten.
Im Unterschied zur Bindungsstörung neigt der Betroffene nicht zu gewalttätigem oder aggressivem Verhalten und nicht zu einem „eingefrorenen“ Gesichtsausdruck bzw. zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber der Umgebung.
Der Autismus unterscheidet sich von der Anpassungsstörung vor allem dadurch, dass das autistische Verhalten auch bei guter Pflege und genügend Anregung weiterbesteht. Außerdem findet sich bei Patienten mit einer Anpassungsstörung nicht das spezifische Verhalten autistischer Menschen. Menschen mit einer Anpassungsstörung weisen im Unterschied zu Autisten auch keine sprachlichen Defizite auf.
Eine Unterscheidung zum Asperger-Syndrom ist die Durchführung einer neurologischen Untersuchung, die bei Menschen mit Asperger-Syndrom häufig auffällige Befunde liefert.
Folgen und Komplikationen
Das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen ist beeinträchtigt; es bestehen Gefühle von Angst, Depression und/oder Sorge. Es können Schwierigkeiten bestehen, den Alltag und seine Anforderungen zu bewältigen. Besonders bei Jugendlichen kann das Sozialverhalten beeinträchtigt sein, so dass es zu Vereinsamung und Isolation kommt. Die Folgen können Arbeitsunfähigkeit, Schwierigkeiten in der Beziehung oder Selbstmordgedanken sein.
Behandlung
Anpassungsstörungen werden psychotherapeutisch behandelt, in Einzelfällen werden unterstützend auch Antidepressiva gegeben.
Kritik
Viele Wissenschaftler kritisieren die derzeitige Diagnose, weil diese hinsichtlich der festgeschriebenen Symptome unspezifisch ist, die Verhaltensmuster und die Anlehnung an die Umgebungfaktoren zu eng umschrieben sind. Es gab bislang relativ wenig Forschung auf diesem Gebiet.[8]
In einem Editorial des British Journal of Psychiatry im Jahr 2001 wurden die aktuellen Diagnosekriterien der Anpassungsstörung als „vage und umgreifend … sinnlos“ bezeichnet.[9][10]
Der deutsche Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Argeo Bämayr schlug bei der Weltgesundheitsorganisation vor, die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme um das Krankheitsbild Kumulative Traumatische Belastungsstörung (KTBS) inklusiva Nr. F43.30 Mobbingsyndrom und inklusiva Nr. F43.31 Stalkingsyndrom und inklusiva Nr. F43.32 Häusliches Gewaltsyndrom (Teil von F43) zu ergänzen; Begründung (Auszug):
„Die Fehldiagnose einer „Anpassungsstörung“ stellt eine klassische diskriminierende Opferbeschuldigung dar, indem man dem Opfer vorwirft, sich dem Psychoterror nicht anpassen zu können. Diese und weitere Diagnosen haben den führenden Mobbingforscher Leyman dazu veranlasst, in seinem 5-phasigen Mobbingmodell die Phase 4 den stigmatisierenden Diagnosen zu widmen. Bestätigt wird diese Einstufung durch die Lehre der Psychotraumatologie, die das Phänomen der Opferbeschuldigung ausführlich behandelt“
Dem war ein Vorschlag zur Einführung der Diagnose „Mobbingsyndrom“ vorausgegangen.[12][13]
Der deutsche Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Peter Teuschel führte aus:
„Unsere Sprachwirklichkeit assoziiert mit dem Begriff „Anpassungsstörung“, dass jemand unangepasst ist. Und genau das trifft so nicht auf Patienten mit reaktiven Störungen zu. Gemeint ist vielmehr, dass sie lernen müssen, mit der neuen Situation in ihrem Leben besser umzugehen, sie zu bewältigen, sie zu ertragen.“
Einzelnachweise
- American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Hogrefe, 2013, ISBN 978-0-89042-554-1.
- Helmut Remschmidt, Martin H. Schmidt, Fritz Poustka (Hrsg.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Mit einem synoptischen Vergleich von ICD-10 und DSM-IV. Huber, 2006.
- https://www.icd10data.com/ICD10CM/Codes/Changes/New_Codes/53?year=2016
- American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Hogrefe, 2013.
- J. L. Ayuso-Mateos, J. L. Vazques-Barquero, C. Dowrick u. a.: The ODIN group: Depressive disorders in Europe: prevalence figures from the ODIN study. In: Brit J Psychiat. 179, 2001, S. 308–316.
- A. Maercker, S. Forstmeier, L. Pielmaier u. a.: Adjustment disorders: Prevalence in a representative nationwide surcey study in German. In: Soc Psych Psychiat Epidem. 47, 2012, S. 1745–1752.
- Helmut Remschmidt, Martin H. Schmidt, Fritz Poustka (Hrsg.): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Mit einem synoptischen Vergleich von ICD-10 und DSM-IV. Huber, 2006.
- Patricia Casey: Adult adjustment disorder: a review of its current diagnostic status. In: Journal of Psychiatric Practice. 7, Nr. 1, Januar 2001, S. 32–40. doi:10.1097/00131746-200101000-00004. PMID 15990499.
- Patricia Casey, Christopher Dowrick, Greg Wilkinson: Adjustment disorders: fault line in the psychiatric glossary. In: British Journal of Psychiatry. 179, Nr. 6, Dezember 2001, S. 479–81. doi:10.1192/bjp.179.6.479. PMID 11731347.
- Kayoumars Fard, Richard W. Huygens, Amos Welner: Undiagnosed psychiatric illness in adolescents: A prospective study and seven-year follow-up. In: Archives of General Psychiatry. 35, Nr. 3, März 1978, S. 279–82. doi:10.1001/archpsyc.1978.01770270029002. PMID 727886.
- Argeo Bämayr: Änderungsvorschlag für die ICD-10 - GM 2017. (PDF) S. 12, abgerufen am 27. November 2021 (Seite 8; dies ist der zweite Antrag; der vorherige erfolgte 2013).
- „Verworrene Diagnostik bei Patienten mit Mobbing- und Stalking-Syndrom: Kumulative traumatische Belastungsstörung“. In: „NeuroTransmitter, Heft 11/2006 (Springer Medizin)“
- Das Mobbingsyndrom: Diagnostik, Therapie und Begutachtung im Kontext zur in Deutschland ubiquitär praktizierten psychischen Gewalt. 1. Auflage. Europäischer Universitätsverlag, 2012, ISBN 978-3-89966-514-7.