Angewandte Wissenschaft
Unter der Bezeichnung Angewandte Wissenschaft werden wissenschaftliche Disziplinen und Teildisziplinen verstanden, die neben ihrer Grundlagenforschung einen bedeutenden Schwerpunkt im Praxisbezug haben.
Geschichte
Der Begriff geht schon auf Aristoteles zurück. In seiner Metaphysik erörtert er den Wissenschaftscharakter der Naturwissenschaft und gibt dort an:
«[…] πᾶσα διάνοια ἢ πρακτικὴ ἢ ποιητικὴ ἢ θεωρητική […]»
„alle denkende Reflexion betrifft entweder das handelnde Leben oder die hervorbringende Tätigkeit oder bewegt sich in reiner Theorie“
Darauf beruht die klassische Einteilung der Wissenschaften in:
- πρακτική praktike – Wissenschaft vom handelnden Leben, praktische Wissenschaften (bei Aristoteles etwa Ethik und Politik)
- ποιητική poietike – Wissenschaft von der hervorbringenden Tätigkeit, (heute meist:) poietische Wissenschaft, produzierende Wissenschaft
- θεωρητική theoretike – Wissenschaft, die sich in reiner Theorie bewegt, theoretische Wissenschaften (bei Aristoteles Physik, Mathematik, Metaphysik)
Bis in die frühere Neuzeit fasst man die Grundwissenschaften einschließlich der Technik als Kunst zusammen, als Gesamtkonzept an Wissen und Fertigkeiten, den Kulturtechniken (vgl. etwa die Musen Urania für Astronomie, Kalliope für Dichtung, Philosophie und Wissenschaft; und Kunst für Anlagenbau im Bergbau oder Wasserkunst). Erst in der Aufklärung differenziert sich das wissenschaftliche Selbstbild.
Heute versteht man unter „Praxis“ meist die Anwendung selbst, also das aristotelische Konzept der poietike (so das Rechnen an sich oder den Berufsalltag des Arztes), und spricht von „angewandter“ Wissenschaft und „theoretischer“ Wissenschaft. Dabei ist der etablierte Begriff insofern problematisch, als er nur einen Teilbereich des Aufgabenfeldes, die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse (Grundlagenforschung und die innere Fachkunde), wiedergibt. Meist gibt es in jeder Wissenschaft einen theoretischen und einen angewandten Zweig, mehr oder minder scharf getrennt. In manchen Fächern hat die Befremdlichkeit zwischen zweckorientiertem Forschen und der „reinen“ Wissenschaft Tradition.
Den Unterschied von Wissenserwerb um der Anwendung willen und um seiner selbst willen erörtert Aristoteles schon in der Einleitung des Werks (1. Ausgangspunkt und Ziel der Wissenschaft)[2] insbesondere in Bezug auf Mathematik, Physik und Metaphysik – als Erkenntnissuche des über das rein Körperliche Hinausgehenden – als theoretischste aller Wissenschaften. Im Kontext der Finanzierbarkeit von Wissenschaft ist aber das „L’art pour l’art“ und der „Elfenbeinturm“ der Theorie ohne Blick auf Anwendung ein Kritikpunkt geworden.
Zum heutigen Begriff der angewandten Wissenschaften
Vornehmlich angewandt sind Fachbereiche wie die Schulpädagogik, die Jugendpsychologie, die soziale Arbeit, Betriebswirtschaftslehre, die Agrar- oder die Ingenieurswissenschaften. Das Selbstverständnis eines Faches als angewandte Wissenschaft ist aber kultur- und wissenschaftsgeschichtlich determiniert. Indem sich die Ingenieurwissenschaften ausdrücklich mit den angewandten Wissenschaften verbunden sehen, grenzen sie sich von den meist als Grundlagenfächer verstandenen Disziplinen wie Mathematik und Physik ab. Innerhalb dieser Grundlagenfächer gibt es aber auch Arbeitsrichtungen, die sich als angewandte Mathematik beziehungsweise angewandte Physik verstehen. Auf interdisziplinäre Fragestellungen sind die angewandte Linguistik und die angewandte Informatik ausgerichtet. Wissenschaftsbereiche wie die Jurisprudenz oder Humanmedizin zählen mit ihren meist praxisbezogenen Disziplinen auch zu den angewandten Wissenschaften, ohne sich als solche zu etikettieren.
Im allgemeinen Sprachgebrauch dient der Ausdruck angewandte Wissenschaft – bzw. angewandte wissenschaftliche Disziplin – der Unterscheidung zu der reinen Grundlagenforschung. Unter Anwendungsforschung bzw. angewandter Forschung werden alle Tätigkeiten im Bereich der Forschung verstanden, die den Hauptzweck haben, neues Wissen zu generieren bzw. vorhandenes Wissen neu zu kombinieren bis hin zu konkreten methodischen Problemlösungen in Technik und Wirtschaft (Sektor Forschung und Entwicklung). Die wissenschaftliche Ausgangsfragestellung weist dabei eine unmittelbare Nähe zur Praxis auf. Das neu gewonnene Wissen fließt sofort wieder in die Praxis zurück und kommt damit mittelbar oder unmittelbar einem Nutzungsbereich zugute. Dabei bilden Fragestellungen der Praxis und des Alltags auch neue Fachrichtungen (wie die Agrarwissenschaften zu Land- und Forstwirtschaft oder theoretische Physik), interdisziplinäre Sammel- und Schnittgebiete (wie Lebenswissenschaften) oder gänzlich neue Anwendungen ehemals eher theoretisch oder taxonomisch orientierter Zweige (etwa Geoinformation in den Geowissenschaften, Raumfahrtwissenschaft als Ableger auch der Astronomie).
Meist bilden solche abgespaltenen Disziplinen schnell selbst wieder angewandte und theoretische Zweige heraus (etwa Experimentalphysik in der theoretischen Physik oder Kristallmorphologie als Grundlagenforschung in den Materialwissenschaften).
Fachhochschulen im deutschen Sprachraum beispielsweise dürfen seit den 1990er Jahren ihren Namen mit einem englischen oder französischen Untertitel, etwa University of Applied Sciences (Universität für angewandte Wissenschaften), ergänzen. Verbunden mit der Umstellung auf die internationalen Bachelor- und Master-Studiengänge, wurden damit aus den „Fachhochschulen (FH)“ ganz offiziell „Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW)“. Diese Bezeichnung macht zugleich deutlich, dass sich diese Hochschulform dezidiert auf anwendungsnahe Studiengänge und anwendungsbezogene Forschung fokussiert.
Einzelnachweise
- Übersetzung nach Aristoteles: Metaphysik, S. 167. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 4243;
zitiert (Originaltext und Übersetzung) nach Theorie, theoretisch, Theorem, betrachte – θεωρία, θεωρέω, Textstelle Aristot.Met.1025b18-1026a19 in Egon und Gisela Gottwein: Griechischwörterbuch, letzte Aktualisierung: 6. März 2013;
vgl. Kapitel in der Übers. Adolf Lasson, 1907, auf zeno.org, dort (S.)[85], 1. Absatz. - Übers. Adolf Lasson, 1907, auf zeno.org.