Alice Harnoncourt
Alice Harnoncourt (* 26. September 1930 in Wien; geborene Hoffelner) ist eine österreichische Violinistin, Pionierin der historischen Aufführungspraxis und Mit-Gründerin und langjährigste Konzertmeisterin des Concentus Musicus Wien.
Leben und Wirken
Alice Harnoncourt studierte Violine bei Ernst Moravec und Gottfried Feist an der Wiener Musikakademie, bei Jaques Thibaud in Paris[1] und bei Tibor Varga in London[2] sowie auch Klavier.[3] Während des Studiums lernte sie Nikolaus Harnoncourt kennen, den sie im Juni 1953 heiratete.[4] Der Unterricht in Aufführungspraxis bei Professor Josef Mertin (1904–1998) machte beide auf die historische Aufführungspraxis in der Alten Musik aufmerksam. Bereits 1949 gründeten Nikolaus und Alice Harnoncourt (damals noch Hoffelner) zusammen mit weiteren Musikern ein Ensemble für Alte Musik, das Wiener Gamben-Quartett, das auch öffentlich auftrat.[5]
Nach weiterem mehrjährigem forschendem Musizieren und Experimentieren auf historischen Musikinstrumenten im privaten Kreis gründeten die beiden 1953 mit einigen anderen Musikern den Concentus Musicus Wien. Während Nikolaus Harnoncourt als künstlerischer Leiter und Dirigent fungierte, hatte die Violinistin Alice Harnoncourt die zweitwichtigste Funktion als Konzertmeisterin über 32 Jahre von 1953 bis 1985 inne, und spielte danach 30 Jahre, von 1985 bis 2015, am zweiten Pult. Sie prägte das Ensemble maßgeblich mit und war von 1953 bis 2015 an fast allen Konzerten und Aufnahmen maßgeblich beteiligt.[6] Bis 1968 spielte sie eine Violine aus dem Jahre 1658 von Jakob Stainer, seither ein Instrument des Absamer Meisters von 1665. Außerdem spielt sie Diskantgambe (die kleinste Form der Gambe), Viola, Viola d’amore und Violino piccolo. Über ihre Arbeit als Violinistin schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Alice Harnoncourt hat als Sologeigerin Epoche gemacht.[7]“
Der ihr als Konzertmeister nachfolgende Erich Höbarth äußerte 2008 in einem Interview, „Alice hätte diese Aufgabe noch ohne weiteres fortführen können, hat sich aber so entschieden“. Sie sei außerdem im Concentus nicht nur als Violinistin, sondern auch als musikalische Assistentin des Dirigenten tätig, und kümmere sich zudem „um sämtliche Verbindungen zur Außenwelt“, und „wenn sie nicht mehr im Concentus spielen würde, das wäre eigentlich nicht denkbar.“[8] Auf die Frage des Magazins Concerti, wie sie als Konzertmeisterin und später als Zweite am ersten Pult in die interpretatorischen Fragen des Musizierens eingebunden gewesen sei, antwortete Alice Harnoncourt 2021:
„Sehr stark. Ich habe das komplette Stimmenmaterial eingerichtet und für jeden Musiker die Striche, Atemzeichen und andere praktische Anmerkungen eingefügt, damit wir effektiver proben konnten. (…) Wir befanden uns im ständigen Austausch.[9]“
Zu einer Zeit, als die meisten Orchester noch keine Musikerinnen aufnahmen, war Alice Harnoncourt Österreichs erste Konzertmeisterin und damit Pionierin und Vorbild für die zunehmende Präsenz weiblicher Musikerinnen.[10] Sie selbst beschreibt die damalige Situation so, dass Frauen damals „höchstens in das Radio Symphonie Orchester rein (kamen), keine Philharmoniker und keine Symphoniker, nur dort, wo man nicht gesehen wird.“[11]
Alice Harnoncourt war nicht nur Konzertmeisterin und Violinistin, sondern auch „Ansprechpartnerin in Aufführungs-Fragen“, „Bearbeiterin ungezählter Notentexte“[12] erledigte zudem Büro- und Organisationsarbeit und war über lange Zeit die Managerin des Ensemble.[13]
Nach dem Tod Nikolaus Harnoncourts bearbeitet Alice Harnoncourt seit Anfang 2016 die Archive des Concentus Musicus[14] und gibt Bücher heraus mit zuvor unveröffentlichten seiner Texte, Notizen und Erinnerungen.[15]
Neben dem Concentus Musicus spielte sie auch im Orchester des Opernhauses Zürich in den von Nicolas Harnoncourt dirigierten Opern-Projekten.[16]
Des Weiteren spielte sie in Gustav Leonhardts Leonhardt Baroque Ensemble und dem Nachfolge-Ensemble Leonhardt-Consort und wirkte in Aufnahmen mit[17], beispielsweise in Elizabethan and Jacobean Music mit dem Countertenor Alfred Deller.[18]
Von Alice Harnoncourt stammen viele Pionier-Aufnahmen von Werken Alter Musik. Sie spielte unter anderem sämtliche Violinkonzerte von Johann Sebastian Bach, Antonio Vivaldis Le quattro stagioni; Violinkonzerte von Händel, Streichquartette von Haydn, Werke von Fux, Biber, Schmelzer, Senfl, Josquin und vielen anderen sowie in Opern u. a. von Monteverdi und Mozart ein.[19][20][21]
Auszeichnungen
Alice Harnoncourt wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. So ist sie Trägerin des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien[22] und des Großen Goldenen Ehrenzeichens des Landes Steiermark[23], und sie ist zudem mit Nikolaus Harnoncourt und dem Concentus Musicus Mit-Preisträgerin zahlreicher Auszeichnungen, zum Beispiel des Echo Klassik[24].
Privates
Alice Harnoncourt war von 1953 bis zu dessen Tod 2016 mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt verheiratet. Zwischen 1954 und 1961 bekamen sie vier Kinder,[25][26] die Opern- und Konzertsängerin Elisabeth von Magnus,[27] den Regisseur, Dramatiker und Lichtgestalter Philipp Harnoncourt, den Schauspieler Eberhard Harnoncourt (1957–1990)[28] und den Mediziner Franz Harnoncourt.[29] Über ihre Mehrfachbelastung als Musikerin, Managerin und Mutter von vier Kindern sagte sie 2016: „Irgendwie habe ich es doch geschafft, Familie und Beruf unter einen Hut zu kriegen, obwohl ich heute nicht mehr weiß, wie“, und berichtet, dass sie in den ersten 15 Jahren in Wien sogar noch die „Wäsche von Hand auswringen“ musste, da es damals noch keine Waschmaschine gab.[30] In der Anfangszeit des Concentus war sie als Konzertmeisterin die einzige Frau im Ensemble, was Aufsehen erregte und als Vorbild andere Musikerinnen ermutigte, während die männlichen Kollegen „etwas bestürzt“ gewesen seien.[31] Andererseits schildert sie auch: „Sie waren sogar stolz auf mich, ich war für das Ensemble eine Art Aushängeschild.“[32] Alice Harnoncourt wohnt in Sankt Georgen im Attergau.
Diskografie (Auswahl)
- John Dowland, Thomas Morley, John Jenkins, Thomas Campian: Elizabethan And Jacobean Music, 1954[33]
- Isaak, Brumel, Senfl, Fink, Compère, Josquin, Obrecht: Instrumentalmusik Am Hofe Maximilians I., 1961
- Fux, Biber, Schmelzer, Legrenzi: Music At The Court Of Leopold I, 1966
- Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte, 1967
- Antonio Vivaldi: Concerti a cinque, a quattro, a tre 1705–1720, 1968
- Claudio Monteverdi: Il Ritorno D'Ulisse In Patria (Dramma in Musica), 1974
- Johann Sebastian Bach: Kammermusik Vol. 1 und 2, 1975 /76
- Antonio Vivaldi: The four seasons, 1977
- Georg Philipp Telemann: 10 Triosonaten, 1978
- Johann Sebastian Bach: Violinkonzerte, 1982
- Violine, Violino piccolo, 1982
- Violinkonzerte BWV 1041–1043, 1984
- Georg Friedrich Händel: Händel-Edition, 1984
- Johann Sebastian Bach: Bach-Edition Teil: Vol. 10., Violinkonzerte, 1984
- Wolfgang Amadeus Mozart: Sämtliche Orgelwerke, 1987
- Doppelkonzerte, 1988
- Antonio Vivaldi: Le quattro stagioni, 1993
- Georg Philipp Telemann: Trio sonatas & quartets, 1995
- Musik im Gespräch, Begegnung mit Alice und Nikolaus Harnoncourt, 2006
- Johann Sebastian Bach: Brandenburgische Konzerte, 2009[34][35][36][37]
- Bach: Violinconcertos, 2021[38]
Publikationen (Auswahl)
- Alice Harnoncourt (Hrsg.), Nikolaus Harnoncourt: Wir sind eine Entdeckergemeinschaft – Aufzeichnungen zur Entstehung des Concentus Musicus, Salzburg 2017, ISBN 978-3-7017-3428-3
- Alice Harnoncourt (Hrsg.), Nikolaus Harnoncourt: Meine Familie, Salzburg 2018, ISBN 978-3-7017-3465-8
- Alice Harnoncourt (Hrsg.), Nikolaus Harnoncourt: Über Musik – Mozart und die Werkzeuge des Affen, Salzburg 2020, ISBN 978-3-7017-3508-2[39]
Weblinks
- Werke von und über Alice Harnoncourt im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Alice Harnoncourt im Gespräch. SRF, 2001
- Michael Tschida: Erinnerungen von Alice Harnoncourt. Kleine Zeitung, 28. Juni 2016 .
- Alice Harnoncourt bei Discogs
Einzelnachweise
- Alice Harnoncourt, österreichische Geigerin, Pionierin des Originalklangs. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- VAN-Wir waren damals nur auf uns selbst angewiesen. Abgerufen am 7. März 2021.
- Kleine Zeitung. Erinnerungen von Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Harnoncourt. Heirat mit Alice Hoffelner. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- harnoncourt.info.Langbiographie. Abgerufen am 8. März 2021.
- ORF Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- FAZ.ALICE HARNONCOURT WIRD NEUNZIG. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Erich Höbarth: Harnoncourt hat die Opern Haydns vollständig rehabilitiert. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- INTERVIEW ALICE HARNONCOURT-Weil es mich emotional so durchgeschüttelt hat. Abgerufen am 6. März 2021.
- Damit alte Musik uns berührt, schockiert, ergreift. Abgerufen am 7. März 2021.
- VAN-Wir waren damals nur auf uns selbst angewiesen. Abgerufen am 7. März 2021.
- Die Geigerin Alice Harnoncourt – Mutter und Herz des Orchesters. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Alice Harnoncourt: Unsere kleine Zeit. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Kleine Zeitung. Erinnerungen von Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Residenzverlag. Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- MENSCHENBILDER – Alice Harnoncourt. Abgerufen am 7. März 2021.
- Bach Cantatas-Gustav Leonhardt (Conductor, Harpsichord, Organ). Abgerufen am 9. März 2021.
- Discogs-Alfred Deller-Desmond-Dupré-Gustav-Leonhardt-Consort-Of-Viols-Elizabethan-And-Jacobean-Music. Abgerufen am 9. März 2021.
- KATALOG DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK. Abgerufen am 7. März 2021.
- discogs.Concentus Musicus Wien. Abgerufen am 7. März 2021.
- discogs.Alice Harnoncourt. Abgerufen am 7. März 2021.
- Goldenes Ehrenzeichen für Alice und Nikolaus Harnoncourt. Abgerufen am 14. April 2021.
- "Groß Gold" für Alice Harnoncourt. Abgerufen am 14. April 2021.
- Echo Klassik 2006 (Concentus Musicus Wien). Abgerufen am 14. April 2021.
- Österreichischer Stardirigent ist tot. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- harnoncourt.info.zeitleiste. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Genealogie Alice Hoffelner
- Mysteriöser Unfall des Enkels von Dirigent Nikolaus Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Franz Harnoncourt übernimmt Vorsitz der Geschäftsführung. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Erinnerungen von Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- INTERVIEW ALICE HARNONCOURT. Abgerufen am 3. Januar 2021.
- Alice Harnoncourt: Unsere kleine Zeit. Abgerufen am 7. März 2021.
- Discogs-Alfred Deller-Desmond-Dupré-Gustav-Leonhardt-Consort-Of-Viols-Elizabethan-And-Jacobean-Music. Abgerufen am 9. März 2021.
- discogs, artist alice harnoncourt. Abgerufen am 8. März 2021.
- discogs, artist nikolaus harnoncourt. Abgerufen am 8. März 2021.
- portal.dnb.alice harnoncourt. Abgerufen am 8. März 2021.
- discogs.artist, Concentus Musicus Wien. Abgerufen am 8. März 2021.
- warner classics release-bach-violin-concertos-harnoncourt. Abgerufen am 8. März 2021.
- Residenzverlag. Alice Harnoncourt. Abgerufen am 3. Januar 2021.