Agrippina die Jüngere
Iulia Agrippina (* 6. November 15 oder 16 n. Chr.[1] in Oppidum Ubiorum, heute Köln; † 59 in Kampanien), zur Unterscheidung von ihrer Mutter oft Agrippina die Jüngere (lateinisch: Agrippina minor) genannt, war eine Tochter des Germanicus und der älteren Agrippina und damit Angehörige der julisch-claudischen Dynastie. Sie war die Mutter Neros und Frau des Kaisers Claudius.
Leben
Agrippina wurde im Oppidum Ubiorum, benannt nach den dort angesiedelten Ubiern, an der Stelle des späteren Köln geboren als siebtes von mindestens neun Kindern des Germanicus, als Germanicus Oberbefehlshaber der in Germanien kämpfenden Legionen war. Über ihre frühe Jugend ist nichts weiter bekannt. In erster Ehe war sie seit 28 n. Chr. mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus verheiratet, mit dem sie im Jahr 37 n. Chr. ihren einzigen Sohn hatte, Lucius Domitius Ahenobarbus, den späteren Nero. Nachdem ihr Bruder Caligula sie zu Beginn seiner Herrschaft zusammen mit den beiden Schwestern Drusilla und Iulia Livilla wie Göttinnen hatte verehren lassen, verdächtigte er nach Drusillas Tod die beiden anderen Schwestern, sich zusammen mit ihrem Schwager Marcus Aemilius Lepidus gegen ihn verschworen zu haben, und schickte Agrippina 39 n. Chr. in die Verbannung auf die Felseninsel Pontia, von der sie nach seiner Ermordung 41 n. Chr. zurückkehren konnte. Ihr erster Mann war schon 40 n. Chr. infolge einer Krankheit gestorben, als sein Sohn zwei Jahre alt war. Nach ihrer Rückkehr heiratete sie in zweiter Ehe Gaius Sallustius Crispus Passienus, der (nach 44, vor 48) wohl 47 n. Chr. verschied; laut Sueton kam er durch eine Tücke Agrippinas um.[2]
Im Jahr 49 n. Chr. heiratete Agrippina ihren Onkel Claudius und wurde dessen vierte Ehefrau, wofür eigens ein Gesetz geändert werden musste, das die Heirat zwischen Onkel und Nichte verbot. Danach gelang es ihr, ihre Position am Hof zu stärken und die ihrer Gegner und Gegnerinnen zu schwächen. Sie suchte, für ihren Sohn Lucius aus erster Ehe die Thronfolge zu sichern, obwohl Claudius selbst einen Sohn, Tiberius Claudius Caesar Germanicus, auch Britannicus genannt, aus der Ehe mit Valeria Messalina hatte. Im Februar des Jahres 50 n. Chr. adoptierte Claudius den 12-jährigen Lucius, der nun als Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus neben beziehungsweise vor seinem jüngeren Stiefbruder stand, und verlieh seiner Frau Agrippina den Titel Augusta. Sie war damit die erste römische Kaiserin, der dieser Titel zu Lebzeiten verliehen wurde, und verfügte zugleich über volles Münzrecht. Daher konnte Agrippina auf reichsweiten Prägungen auch ohne Nennung oder Porträt des Princeps dargestellt werden. Ihre Macht zu dieser Zeit zeigt sich auch in der Gründung der nach ihr benannten Colonia Claudia Ara Agrippinensium 50 n. Chr., womit die Siedlung an ihrem Geburtsort vom Oppidum zu einer Colonia civium Romanorum erhoben wurde, deren Einwohner, zunächst meist Veteranen, römisches Bürgerrecht hatten.[3]
Nero wurde mit 14 Jahren für erwachsen erklärt und zum Senator und Prokonsul ernannt, mit 16 Jahren verheiratet. Seine erste Ehefrau wurde 53 n. Chr. die 13-jährige Claudia Octavia, Tochter des Claudius und Schwester des Britannicus. Da ihr Stiefbruder Nero durch Adoption offiziell ihr Bruder geworden war, den sie nach römischem Recht nicht heiraten durfte, war Claudia zuvor per Adoption pro forma zu einer Octavierin gemacht worden. Octavia wurde im folgenden Jahr Kaiserin, als ihr Vater Claudius 54 n. Chr. starb und ihr Mann als sein Sohn zum Kaiser ausgerufen wurde.
Laut Tacitus hatte Agrippina ihren Mann mit Hilfe der Giftmischerin Lucusta vergiften lassen, um für ihren Sohn Nero den Weg frei zu machen. Anfangs hatte sie offenbar darauf gehofft, nach dem Tod des Claudius die Macht selbst ergreifen zu können, wie eine Münze mit der Aufschrift „Agrippina Augusta, Frau des vergöttlichten Claudius, Mutter von Nero Caesar“ annehmen lässt.[4] Auch ließ sich Agrippina als Göttin des Glücks (Fortuna) darstellen.[5] In den ersten Jahren übte sie zwar noch starken Einfluss auf Neros Regierungsarbeit aus, verlor ihn aber in den folgenden Jahren. Im Jahr 59 n. Chr. ließ Nero seine Mutter ermorden. Diese Tat wurde noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem sogenannten Cäsarenwahnsinn in Verbindung gebracht. Inzwischen gibt es auch andere Sichtweisen.
Wie bei den meisten Angehörigen des julisch-claudischen Geschlechts ist das Bild Agrippinas von den Darstellungen in den antiken Quellen geprägt (vor allem Tacitus und Sueton), die kaum eine objektive Beurteilung zulassen. Tacitus zog in seinen Annales nach eigenen Angaben die von ihr verfassten Memoiren heran.[6]
Nachleben
Agrippina gilt als die Gründerin Kölns und wird dort noch heute durch das Gewand der Jungfrau des Kölner Dreigestirns im Karneval symbolisiert.[7] Im Skulpturenprogramm des Kölner Rathausturms wurde Agrippina im Erdgeschoss eine Figur von Heribert Calleen gewidmet.[8]
Wahrscheinlich 1708/1709 komponierte Georg Friedrich Händel auf der Grundlage eines Librettos von Kardinal Vincenzo Grimani die Oper Agrippina, die am 26. Dezember 1709 im Teatro San Giovanni Grisostomo in Venedig uraufgeführt wurde.
Auch Händels Agrippina zeigt die Protagonistin in den Rahmenbedingungen der seit der Antike herkömmlichen Rezeption: als ehrgeizig und skrupellos, als intrigant und intelligent. Von dieser gängigen Rezeption in Literatur, Film und bildender Kunst wich als einer der wenigen Literaten der Altphilologe Pierre Grimal ab, der 1992 ein fiktives Tagebuch Agrippinas veröffentlichte, in dem Agrippina als reflektierende und sich nach der Liebe ihres Sohnes sehnende Persönlichkeit dargestellt wird.[9] Im historischen Gedächtnis der Kölner erfährt Agrippina eine anhaltend positive Wertschätzung, was sich im Karnevalslied Agrippina Agrippinensis von Karl Berbuer aus dem Jahr 1952 ebenso widerspiegelt wie in der Benennung von Straßen – etwa dem Agrippinaufer und der Agrippinawerft. Der Fußballverein SV Agrippina Germania Köln bezieht sich namentlich gleichermaßen auf sie wie die älteste Kölner Versicherung, die 1844 gegründete Agrippina-Versicherung.[10]
Darstellungen
- Büste Agrippinas der Jüngeren, Ny Carlsberg Glyptotek
- Statue Agrippinas der Jüngeren, gefunden 1885, aus Basanit
- Büste Agrippinas der Jüngeren im Römisch-Germanischen Museum, Köln
- Marmorbüste Agrippinas der Jüngeren, aus der Stadt Emerita Augusta, heute Mérida
- Marmorbüste Agrippinas der Jüngeren, Archäologisches Museum Istriens, Pula
Literatur
- Mario Kramp: Köln und seine Agrippina, vom Monstrum zur Mutter. Emons Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-95451-900-2
- Werner Eck: Agrippina, die Stadtgründerin Kölns. Eine Frau in der frühkaiserzeitlichen Politik. Greven, Köln 1993, ISBN 3-7743-0271-5.
- Anthony A. Barrett: Agrippina. Mother of Nero. Batsford, London 1996, ISBN 0-7134-6854-8.
- Mette Moltesen, Anne Marie Nielsen (Hrsg.): Agrippina Minor. Life and Afterlife – Liv og eftermaele (= Meddelelser fra Ny Carlsberg Glyptotek. Band 9). Ny Carlsberg Glyptotek, Copenhagen 2007, ISBN 978-87-7452-296-6 (Rezension im Bryn Mawr Classical Review).
- Dietrich Boschung, Werner Eck u. a.: Agrippina als Göttin des Glücks. Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln, Köln 2011 (Begleitheft zu einer Sonderausstellung im Römisch-Germanischen Museum).
- Christoph Kugelmeier: Agrippina. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02468-8, Sp. 9–16.
Weblinks
- Literatur von und über Agrippina die Jüngere im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Donna Hurley: Kurzbiografie (englisch) bei De Imperatoribus Romanis (mit Literaturangaben).
- Agrippina als Göttin des Glücks, Ausstellung im Römisch-Germanischen Museum Köln 27. August 2011 bis 25. März 2012
- Julia Agrippina- der Bauch aus dem das Unheil kroch
- Dirk Schmitz: Art. Agrippina die Jüngere, Stadtgründerin Kölns und Mutter Neros (15/16-59), im Online-Portal Rheinische Geschichte, veröffentlicht am 24. September 2012
- Herwig Katzer: 06.11.0015 – Geburtstag der römischen Kaiserin Agrippina WDR ZeitZeichen vom 6. November 2015 (Podcast)
Anmerkungen
- Der Eintrag für das Jahr 16 in den Fasti Antiates ministrorum (CIL 10, 06638) belegt den Geburtstag am 6. November, ebenso die Einträge in den Akten der Arvalbrüder für die Jahre 57/58; siehe hierzu Victor Ehrenberg, A. H. M. Jones (Hrsg.): Documents Illustrating the Reigns of August and Tiberius. Clarendon Press, Oxford 1955, S. 54. Da sich daraus kein Geburtsjahr ermitteln lässt, wird das Geburtsjahr seit Theodor Mommsen: Die Familie des Germanicus. In: Hermes 13, 1878, S. 245–265, hier: S. 252–262, üblicherweise in das Jahr 15 datiert; eine Geburt erst im Jahr 16 und eine Änderung der Geschwisterabfolge schlug vor: John H. Humphrey: The Three Daughters of Agrippina Maior. In: American Journal of Ancient History. Band 4, 1979, S. 125–143; nach Abwägung der Argumente Humphreys hält Anthony A. Barrett: Agrippina, Mother of Nero. Batsford, London 1996, S. 269–271, an dem Geburtsjahr 15 fest, weist aber auf die damit verbundene Unsicherheit hin; Werner Eck: Agrippina, die Stadtgründerin Kölns. Eine Frau in der frühkaiserzeitlichen Politik. Greven, Köln 1993, S. 8 hält das Jahr 15 für wahrscheinlich, ohne das Jahr 16 auszuschließen; S. 10 schreibt er „15/16“.
- Sueton, Vita Passieni Crispi (englische Übersetzung).
- Tacitus, Annales 12,26–27.
- Werner Eck: Die iulisch-claudische Familie: Frauen neben Caligula, Claudius und Nero. In: Hildegard Temporini-Gräfin Vitzthum (Hrsg.): Die Kaiserinnen Roms. Von Livia bis Theodora. C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49513-3, S. 103–163, hier S. 151–155.
- Dietrich Boschung, Werner Eck u. a.: Agrippina als Göttin des Glücks. Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln, Köln 2011.
- Tacitus, Annales 4,53.
- Das Kölner Dreigestirn.
- stadt-koeln.de: Skulpturen des Erdgeschosses, abgerufen am 15. Januar 2015.
- Pierre Grimal: Les Mémoires d’Agrippine. Éditions de Fallois, Paris 1992 (deutsche Übersetzung: Die Wölfin von Rom. Roman. Goldmann, München 1994).
- Zur Rezeption Agrippinas seit der Antike insgesamt siehe Christoph Kugelmeier: Agrippina. In: Peter von Möllendorff, Annette Simonis, Linda Simonis (Hrsg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 8). Metzler, Stuttgart/Weimar 2013, ISBN 978-3-476-02468-8, Sp. 9–16.