Willkür (Recht)
Willkür ist ein Rechtsbegriff, der im Lauf der Zeit unterschiedlich aufgefasst wurde.
Ursprüngliche Bedeutung
Willkür bezeichnet ursprünglich wertneutral die Entscheidungsfreiheit im Gegensatz zur Notwendigkeit, in bestimmter Weise zu verfahren.
Willkür bezog sich auch auf die mittelalterlichen Rechte von Städten im Rahmen der Selbstverwaltung. Das Stadtrecht der Stadt Danzig hieß Danziger Willkür, die Krakauer Wylkör der Stad[1] wurde 1505 im Balthasar-Behem-Kodex festgehalten.
Im Sinne der Entscheidungsfreiheit findet sich die Bedeutung etwa noch wieder in der gewillkürten Prozessstandschaft (also die nach Wahl der Prozessparteien eingetretene Prozesstandschaft) im Gegensatz zur notwendigen Prozessstandschaft (also die rechtliche vorgeschriebene Prozesstandschaft).
Bezogen auf den Staat besteht allerdings aufgrund der Bindung auf das Gemeinwohl auch dann keine eigentliche Entscheidungsfreiheit, wie sie Privaten zusteht. Auch die Ausübung von Staatsgewalt innerhalb eines Ermessensrahmens oder Beurteilungsspielraums ist nicht frei. Der Staat (im Gegensatz zu Privaten) darf mithin nicht willkürlich entscheiden, sondern nur aus sachlichem Grund, bezogen auf das öffentliche Wohl (salus rei publicae).
Deutschland
Bezogen auf staatliche Entscheidungen – der Legislative, Exekutive oder Judikative – bedeutet Willkür das Fehlen eines sachlichen Grundes und damit jedenfalls einen Verstoß gegen Verfassungsprinzipien.
Willkür liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, wenn eine Rechtsanwendung, insbesondere eine gerichtliche Entscheidung, nicht nur fehlerhaft, sondern "[…] unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht."[2] Willkür ist bei einer Maßnahme gegeben, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist. Dabei ist Willkür im objektiven Sinn zu verstehen und enthält keinen subjektiven Schuldvorwurf.[3]
Im Bereich der Exekutive liegt Willkür vor, wenn die Behörde bei der Anwendung einer Norm von selbst gesetzten Entscheidungskriterien aus der Vergangenheit in einem Einzelfall abrücken will: Die Verwaltungspraxis der Vergangenheit bei der Ausfüllung von Handlungsspielräumen (Ermessen) bindet die Behörde auch für die Zukunft. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG resultiert für den einzelnen Bürger ein Anspruch auf gleiche Behandlungsweise gemäß diesen Entscheidungskriterien. Sein Fall darf nicht anders beurteilt werden als der bzw. die davor behandelten Fälle. Davon unberührt bleibt die Möglichkeit der Verwaltung, ihre Praxis generell für die Zukunft abzuändern.
Sofern Grundrechtsträger betroffen sind, stellt eine willkürliche Entscheidung zugleich einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Willkürverbot) gemäß Art. 3 Abs. 1 GG dar und kann auf die Verfassungsbeschwerde hin aufgehoben werden, wenn kein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung gegeben ist.
Auch im Zivilprozessrecht ist der Begriff der Willkür von Bedeutung: Eine gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindende Verweisung des Rechtsstreits an ein anderes Gericht hat ausnahmsweise keine Bindungswirkung, wenn die Verweisung willkürlich ist.[4]
Österreich
Willkür ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs keineswegs nur dann gegeben, wenn die Behörde absichtlich Unrecht begeht. Der Schutz, den der Gleichheitsgrundsatz den Staatsbürgern bietet, ist keineswegs auf die Abwehr von Amtsmissbrauch oder von ihm ähnlichen Fällen beschränkt. Der Gleichheitsgrundsatz wäre ansonsten inhaltslos, denn Exzesse der erwähnten Art sind relativ selten. Willkürlich handelt vielmehr eine Behörde auch dann, wenn sie ihre Entscheidung z. B. leichtfertig fällt, so etwa, wenn sie sich im Gegensatz zu allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen oder allgemein bekannten Erfahrungstatsachen stellt, oder auch, wenn sie von einer bisher allgemein geübten und als rechtmäßig anzusehenden Praxis abweicht, ohne hiefür Gründe anzugeben oder wenn die angegebenen Gründe offenkundig unzureichend sind. Allen diesen Beispielsfällen ist gemeinsam, dass die behördliche Tätigkeit erkennen lässt, dass sich die Behörde in Wirklichkeit über das Gesetz hinwegsetzt, anstatt ihm zu dienen.
Ist die offenkundige Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung von einer Qualität, die nur durch eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Gesetz erklärbar ist, so ist sie darum willkürlich.
Schweiz
In der Schweiz ist das Willkür-Verbot ein in Art. 9 der Bundesverfassung verankertes Grundrecht.
Liechtenstein
Im Fürstentum Liechtenstein ist das Willkür-Verbot ein eigenständiges, ungeschriebenes Grundrecht.[5] Willkür ist nach der Rechtsprechung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes eine offensichtliche, unhaltbare rechtliche Beurteilung oder krasse Aktenwidrigkeit. Eine unrichtige rechtliche Beurteilung ist jedoch kein Verstoß gegen das Willkür-Verbot.[6]
Literatur
- Felix Uhlmann: Das Willkürverbot (Art. 9 BV). 2005, ISBN 3-7272-9935-5 (zugl. Habil.-Schrift Basel 2004).
- Norbert Blüm: Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014, ISBN 978-3-86489-066-6.
Einzelnachweise
- Joszef Wiktorowicz: Die „Stadtordnung“ als Textsorte. Anhand einer Abschriftensammlung aus Krakau. In: Mechthild Habermann (Hrsg.): Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts. Berlin 2011 (= Berliner sprachwissenschaftliche Studien. Band 22), S. 429–438.
- BVerfG, Beschluss vom 12. Oktober 2009, Az. 1 BvR 735/09, Volltext
- BVerfG, Beschluss vom 15. März 1989, Az. 1 BvR 1428/88, Volltext = BVerfGE, 80, 48, 53.
- BGH, Beschluss vom 19. Januar 1993, Az. X ARZ 845/92, Volltext = NJW 1993, 1273.
- Entscheidung des liechtensteinischen Staatsgerichtshofes in StGH 1998/45 (LES 2000,1 Erw 4 ff).
- StGH 1995/28 (LES 1998,6, Erw 2.2).