Refeudalisierung
Als Refeudalisierung oder Re-Feudalisierung (engl. refeudalizaton) bezeichnen einige Sozialwissenschaftler im engeren Sinne die Wiederherstellung einer feudalen Ordnung, also die Rückkehr zu originären, nicht analogen Formen feudaler Organisation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Im weiteren Sinne wird der Begriff auch gebraucht, um die Einführung originärer oder analoger Mechanismen und Beziehungen in der modernen Phase der Wirtschaftsentwicklung negativ zu kennzeichnen, die an den mittelalterlichen europäischen Feudalismus oder einem feudalistischen Idealtypus erinnern. In diesem weiteren Sinne überschneidet sich der Begriff Refeudalisierung mit Neo-Feudalismus.
Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts
Der Prozess der Refeudalisierung wird auch in der europäischen Geschichtsschreibung des siebzehnten Jahrhunderts verwendet. Der Begriff wurde von den italienischen marxistischen Historikern Ruggiero Romano und Rosario Villari berühmt gemacht, um die sozialen Bedingungen hinter dem neapolitanischen Aufstand von 1647 zu beleuchten. Das Konzept wurde von Gramscis Ideen, den historiographischen Debatten der 1950er und 1960er Jahre, die sich auf Eric Hobsbawms "Allgemeine Krise" des siebzehnten Jahrhunderts konzentrierten, sowie der italienischen Politik der 1960er Jahre beeinflusst.
Villari benutzte sie ganz gezielt in Bezug auf den zunehmenden Druck in den sechs Jahrzehnten vor dem Aufstand von 1647, in denen sich die Bauernschaft und die unteren Mittelschichten gegen die feudale Aristokratie und die internationalen Finanziers auflehnten. Auslöser des Prozesses war der Geldbedarf des königlichen Staates. Die spanische Krone durchsetzte das Bürgertum mit reichen Kaufleuten und Finanziers, die die adelige Ordnung verstärkten.
Fernand Braudel fand den "klarsten Fall von Refeudalisierung" im spanischen besetzten Neapel des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Monarchie hatte durch den Verkauf von Feudaltiteln Kapital beschafft, was auf lange Sicht die fiskalische Belastung der Armen auf dem Land durch das Seigneurialregime erhöhte, da die Adeligen von der Steuerzahlung an das Vizekönigreich befreit waren. Die Refeudalisierung in einem allgemeineren Sinn wurde zur Erklärung des gescheiterten Übergangs Italiens zum modernen Kapitalismus herangezogen. Obwohl Italien bei der kommerziellen Revolution eine Vorreiterrolle spielte, vernachlässigten die Feudalherren die Geschäftsmöglichkeiten, um die Produktionsprozesse zu erneuern und weiter zu rationalisieren.
Zweite Leibeigenschaft
Die Institution der Leibeigenschaft hielt sich bei den adligen Großgrundbesitzern in der historischen Region Mittel-Osteuropa bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, während außerhalb ihrer Ländereien bereits die Lohnarbeit vorherrschte. Mit der Einführung und Ausweitung neuer Anbaumethoden durch ebendiese Grundherren zur Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft verlor die Subsistenzwirtschaft der freien Bauerngemeinden ihre Existenzgrundlage. Die Landarbeiter waren gezwungen, erneut ihre Freiheit aufzugeben und sich als Leibeigene zu verdingen. Diese Entwicklung wurde als „Refeudalisierung“ oder auch als „zweite Leibeigenschaft“ bezeichnet.[1]
Neofeudalismus
Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit
Jürgen Habermas' Theorie der Öffentlichkeit basiert auf seinen Forschungen über die bürgerliche Klasse des achtzehnten Jahrhunderts in Großbritannien, Frankreich und Deutschland; sein Schlüsselwerk zum Thema ist Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). Der gewonnene Raum für die Öffentlichkeit kommt in private Hände zurück, einen Prozess, diesen Prozess beschreibt er als "Refeudalisierung der öffentlichen Sphäre". "Habermas diskutierte die zangenartige Bewegung, in der der spätmoderne Konsumkapitalismus versucht, uns einerseits zu unreflektierten Massenkonsumenten zu machen, während politische Akteure, Interessengruppen und der Staat versuchen, uns andererseits zu unreflektierten Massenbürgern zu machen".[2]
Für Habermas ist die "Öffentlichkeit" "ein Raum, in dem alle Bürger kritisch, substantiell und rational über öffentliche Politik debattieren können" (obwohl dies nicht unbedingt in einem einzigen physischen Raum existiert: er kann auch z. B. durch Zeitungen konstituiert werden). In ihrer idealen Form besteht die Öffentlichkeit "aus Privatpersonen, die als Öffentlichkeit versammelt sind und die Bedürfnisse der Gesellschaft mit dem Staat artikulieren". Die öffentliche Sphäre ist die Quelle der öffentlichen Meinung, die benötigt wird, um "die Autorität in einer funktionierenden Demokratie zu legitimieren". Habermas unterschied zwischen Lebenswelt und System. Die öffentliche Sphäre ist Teil der Lebenswelt und sie ist der unmittelbare Schauplatz des einzelnen gesellschaftlichen Akteurs, und Habermas wandte sich gegen jede Analyse, die die gegenseitige Abhängigkeit der Lebenswelt entkoppelt.[3]
Habermas' Analyse basiert auf einer mündlichen Voreingenommenheit; er glaubte, dass sich Öffentlichkeit am effektivsten durch Dialog, Reden, Debatte und Diskussion konstituieren und aufrechterhalten lässt. In seinen weiteren Überlegungen behauptet Habermas, dass die öffentliche Debatte durch "meinungsbildende Vereine" – das sind freiwillige Vereinigungen, soziale Organisationen wie etwa von Kirchen, Sportvereinen, Gruppen besorgter Bürger, Basisbewegungen, Gewerkschaften – angeregt werden kann, um den Botschaften der Autorität entgegenzuwirken oder sie neu zu gestalten. Diese Öffentlichkeit begann sich erstmals Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Großbritannien zu bilden. Das Ergebnis war der Licensing Act (1695), der es Zeitungen erlaubte, ohne die Zensur der Königin zu drucken, was sie wollten. Allerdings gab es immer noch strenge Gesetze. Aber die Sphäre wird als ein entscheidender Wegbereiter dafür gesehen.
Für Habermas ist ein wesentliches Merkmal des Feudalwesens, dass eine kleine Zahl von Individuen den öffentlichen Staat verkörperte: ein König oder ein ähnlicher Offizier war das Reich (was Habermas "repräsentative Öffentlichkeit" nannte). Habermas sah in der bürgerlichen Öffentlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts einen positiven Kontrast zu dieser Situation. Jahrhundert nahm er jedoch den Aufstieg von Werbung, Marketing und "Public Relations" wahr, die versuchten, die Öffentlichkeit zu manipulieren und kritisches Denken zu verhindern, und er sah, dass der Staat, die politischen Parteien und Interessengruppen zunehmend die gleichen Ansätze benutzten, um Stimmen zu gewinnen.
Eine "Re-Feudalisierung" der Öffentlichkeit muss in einem anderen, genaueren Sinn diskutiert werden. Die Integration von Massenunterhaltung und Werbung, die in Form von Öffentlichkeitsarbeit bereits einen "politischen" Charakter annimmt, unterwirft nämlich selbst den Staat unter seinen Kodex. Da private Unternehmen ihren Kunden bei Konsumentenentscheidungen das Bewusstsein der Bürger suggerieren, muss der Staat seine Bürger wie Konsumenten "ansprechen". Die öffentliche Gewaltanwendung fordert also auch die Öffentlichkeit.
Einige neuere Kommentatoren haben argumentiert, dass die Politik des Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts und des Westens im Allgemeinen die von Habermas beobachteten Trends weiterführen.
Globalisierung
Es gibt einen dritten Kontext, den die Soziologen in Anlehnung an Habermas als Re-Feudalisierung bezeichnen, um die gegenwärtigen sozioökonomischen Prozesse in der globalen Wirtschaft zu beschreiben. Die Konzepte überschneiden sich mit Diskussionen des Neomittelalters.
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler verwendet den deutschen Begriff "Refeudalisierung der Gesellschaft", um die Kräfte hinter der neoliberalen Globalisierung zu beleuchten. In seiner Broschüre "The Empire of Shame" kritisiert er das neue System der "Refeudalisierung", das auf Knappheit und Verschuldung basiert. Der Begriff wird im Englischen jedoch typischerweise mit "new feudalization" übersetzt, was hier die Untergrabung aufklärerischer Werte (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) und die radikale Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen bedeutet.[4][5]
Vergleichbare Ideen sind von Sighard Neckel und Jakob Tanner entwickelt worden.[6][7]
Der Historiker und Direktor des CALAS Olaf Kaltmeier erweiterte diesen Ansatz um politisch-kulturelle Dimensionen und wendete ihn auf Lateinamerika an. Dabei verbindet er die extreme soziale Polarisierung der Sozialstruktur mit der ungleichen Landverteilung in Lateinamerika, der räumlichen Segregation in Form von gated communities und Shopping Center (die oftmals mit retro-kolonialen Architekturen einhergehen), einer extraktivistischen Ökonomie mit Akkumulation durch Enteignung sowie einer Verdoppelung der ökonomischen durch politische Macht in Form von Millionären, die wie Mauricio Macri oder Sebastián Pineira, Präsidenten werden.[8]
Siehe auch
Fußnoten
- Christian Giordano: Interdependente Vielfalt: Die historischen Regionen Europas. In: Karl Kaser u. a. (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Wieser-Verlag, Klagenfurt 2003, S. 113–134.
- Jamie Warner, 'The New Refeudalization of the Public Sphere', in The Routledge Companion to Advertising and Promotional Culture, edited by Matthew P. McAllister and Emily West (New York: Routledge, 2013), pp. 285-97 (p. 285).
- Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962 (1990), p 292.
- Jean Ziegler, L'empire de la honte (Fayard, 2005), ISBN 978-2-213-62399-3.
- Jürgen Schutte, 'Was ist: „Refeudalisierung der Gesellschaft“?', attacBerlin (26.2.2008).
- Sighard Neckel, 'Refeudalisierung der Ökonomie: Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft', MPIfG Working Paper 10/6 (Cologne: Max Planck Institute for the Study of Societies, July 2010).
- Jacob Tanner: Refeudalisierung, Neofeudalismus, Geldaristokratie: die Wiederkehr des Vergangenen als Farce?”. In: Giovanni Biaggini, Oliver Diggelmann und Christine Kaufmann, (Hrsg.): Festschrift für Daniel Thürer. Dike Verlag, Zürich 2015, S. 733–748.
- Olaf Kaltmeier: Refeudalización. Desigualdad social, economía y cultural política en América Latina en el temprano siglo XXI. BiUP, Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8394-4524-2.