Napoleon Chagnon
Napoleon Alphonseau Chagnon (* 27. August 1938 in Port Austin, Michigan; † 21. September 2019 in Traverse City, Michigan)[1] war ein US-amerikanischer Anthropologe. Er lehrte an der Pennsylvania State University und der University of California, Santa Barbara.
2012 wurde er in die National Academy of Sciences gewählt.
Schriften
- 1966 – Yanomamö Warfare, Social Organization and Marriage Alliances. (unveröffentlichte Dissertation), Department of Anthropology, University of Michigan, 1966.
- 1968 – Yanomamö: The Fierce People. 1968.
- 1974 – Studying the Yanomamö. Holt, Rinehart & Winston, New York 1974.
- 1976 – Die Krieger vom Orinoco (Yanomamö) Geo Magazin 12/1976, S. 4, 5 und 54–74 Verlag Gruner + Jahr, Hamburg.
- 1992 – Yanomamo – The Last Days Of Eden. 1992.
- 2002 – Adaptation and Human Behavior: An Anthropological Perspective. (Co-Autoren: Lee Cronk, William Irons), 2002.
- 2013 – Noble Savages: My Life Among Two Dangerous Tribes – The Yanomamo and the Anthropologists. 2013.
Kritik
Chagnons Buch „Noble Savages (Edle Wilde)“ löste Proteste unter Experten und dem Volk der Yanomami aus. Bereits in Chagnons Buch „Yanomamö: The Fierce People“ (Yanomamö: Das kriegerische Volk) wird das Volk der Yanomami als „listig, aggressiv und furchterregend“, „kriegerisch“, „untereinander fortlaufend am Krieg stiftend“ und in einem Zustand „chronischer Kriegsführung“ lebend beschrieben.
In seinem Film „The Ax Fight“ (1968) zeigte er Szenen, die aggressives Verhalten dokumentieren sollten und die überdies größtenteils gestellt waren.[2] Dies wurde von Dieter Haller als Beispiel für früheres ethnologisches Filmen genannt, das die eigenen Theorien selektiv zu bestätigen suchte.[3]
Das Buch „The Fierce People“ war in den USA nach seinem Erscheinen ein Bestseller und ist heute immer noch ein Standardtext für Anthropologie-Studenten. Das Buch ist auch eine Hauptquelle in vielen aktuellen populärwissenschaftlichen Büchern von Autoren wie Jared Diamond und Steven Pinker. Trotz der Popularität seines Buches wurden Chagnons Studien scharf kritisiert. Viele Anthropologen (darunter Marshall Sahlins, Philippe Descola und der führende brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro), Ärzte und Missionare, die Jahrzehnte mit den Yanomami gearbeitet haben, erkennen seine Darstellung nicht an und lehnen seine Schilderung in vollem Umfang ab.
Eine Anzahl von Anthropologen hat daraufhin einen offenen Brief unterschrieben, der Chagnons Darstellung der Yanomami kritisiert.[4]
Der Aktivist Stephen Corry von der NGO Survival International beklagte, dass wissenschaftliche Autoren sich weiterhin auf Chagnons Arbeiten beriefen: "Chagnons Arbeit wird immer wieder von Autoren wie Jared Diamond und Steven Pinker herangezogen, die indigene Völker als «brutale Wilde» darstellen wollen – als Menschen, die viel gewalttätiger sind als wir." Nach Auffassung Corrys sei die zentrale These Chagnons "über die «Gewalt» unter den Yanomami längst diskreditiert."[5]
Im Jahre 2000 veröffentlichte der Autor Patrick Tierny ein Buch mit dem Titel Darkness in El Dorado, in dem er schwere Vorwürfe gegen Chagnon und weitere Wissenschaftler erhob. So habe Chagnon durch Bestechung und Manipulation bewusst blutige Konflikte zwischen den Yanomani initiiert und inszeniert, um seine Hypothesen zu unterfüttern. Weiterhin sei Chagnon an der Testung eines Impfstoffes gegen Masern beteiligt gewesen, die laut Tierny den Tod zahlreicher, möglicherweise tausender Indianer zur Folge gehabt habe[6]. Chagnon bestritt die Vorwürfe. Das Buch löste in den USA einen Skandal aus und wurde Gegenstand mehrerer akademischer Untersuchungskommissionen von Fachgesellschaften und der Universität Michigan, die einem möglichen Fehlverhalten Chagnons und der anderen Wissenschaftler nachspürten. Die Ergebnisse entlasteteten jedoch Napoleon Chagnon[7], dem Autor Patrick Tierny hingegen warf ein Untersuchungsteam der Universität von Kalifornien in Santa Barbara explizit Verleumdung und Verfälschung vor[8].
Der Film „Die Yanomami – Missbrauch im Urwald“ (OT: Segredos da Tribo von José Padilha, 2010) griff die Vorwürfe Tiernys erneut auf. Arbeitsweise, Motivation und Ergebnisse von Chagnons Untersuchungen vierzig Jahre zuvor wurden kritisch hinterfragt, so etwa eine Beauftragung durch die amerikanische Atomenergiebehörde, die Praxis, Forschungsergebnisse durch große Mengen materieller Güter, z. B. Äxte und Macheten, zu „erkaufen“ oder eine Missachtung der Sorgfaltspflicht, die zur Einschleppung tödlicher Krankheiten durch den Besuch des Forscherteams geführt habe.[9] Napoleon Chagnon bestritt erneut die inhaltliche Berechtigung der Vorwürfe[10].
Weblinks
- „Meeting The Fierce People“ (PDF; 254 kB), Daily Nexus, 20. Januar 1988.
- „Napoleon Chagnon's War of Discovery“, LA Times Magazine, 30. Januar 2000.
- „Napoleon Chagnon's Waterloo“, The Dartmouth Review, 30. Oktober 2000.
- „Napoleon in Exile“, National Geographic Adventure Magazine, April 2002.
Einzelnachweise
- Cornelia Dean: Napoleon Chagnon, 81, Controversial Anthropologist, Is Dead. In: The New York Times, 30. September 2019 (englisch). Abgerufen am 30. September 2019.
- Dieter Haller (Text), Bernd Rodekohr (Illustrationen): Dtv-Atlas Ethnologie. 2. Auflage, dtv, München 2010, S. 153.
- Dieter Haller, Atlas de etnología, Verlag Ediciones Akal, 1. Auflage, Madrid 2011, ISBN 978-8446025801, S. 153
- siehe dazu Link zum veröffentlichten Brief auf:'Brutale Wilde': Debatte um Gewalt bei indigenen Völkern geht weiter, Beitrag auf survivalinternational.de vom 26. Februar 2013, abgerufen am 9. August 2020.
- 'Brutale Wilde': Debatte um Gewalt bei indigenen Völkern geht weiter, Beitrag auf survivalinternational.de vom 26. Februar 2013, abgerufen am 10. August 2020.
- siehe dazu folgenden Spiegel-Artikel vom 02.10.2000, der die - später widerlegten - Vorwürfe Tiernys gegen Chagnon wiedergab: Märchen vom Totschläger Sex mit jungen Indianern? Experimente mit Masern-Viren? Inszenierte Stammesfehden? Forscher aus dem Westen sollen Südamerikas Yanomami für Menschenversuche missbraucht haben in: DER SPIEGEL 40/2000
- Ergebnis des untersuchungsführenden Provostes der Universität Michigan vom November 2000
- Vorläufiger Bericht einer Untersuchungskommission des Departments für Anthropologie der Universität von Kalifornien in Santa Barbara vom Oktober 2001
- Die Yanomami Missbrauch im Urwald | arte, Zusammenfassung zum Film von Film von José Padilha, 4. Februar 2015, abgerufen am 9. August 2020.
- Elizabeth Edwards: Napoleon Chagnon, Anthropologist, Discusses His Dramatic Career from Northern Michigan. 3. August 2010, abgerufen am 11. August 2020.