Lingua Ignota
Lingua Ignota (lateinisch für unbekannte Sprache) ist eine konstruierte Sprache aus dem 12. Jahrhundert. Sie wurde von der Benediktinerin Hildegard von Bingen geschaffen und ist u. a. im Rupertsberger Riesenkodex überliefert. Die Erklärung der Wörter ist durch alt- bzw. mittelhochdeutsche und (mittel-)lateinische Glossen angegeben.
Der Wortschatz umfasst 1011 Begriffe, die einen Bezug zum menschlichen Leben sowie zur Natur haben. Mehrere Wörter lassen Ähnlichkeiten zum Deutschen, Lateinischen, Altgriechischen, Hebräischen und Pseudo-Hebräischen erahnen, wobei unzweifelhaft auch vollständig erfundene Wörter enthalten sind. Auffällig ist die Häufung der Endung -uz bzw. -z. Aufgrund bestimmter Merkmale wie Silbenverlängerungen, Hinzufügung von Zischlauten, oder dass einzelne Wörter der Lingua Ignota mit einem ähnlichen Phonem beginnen wie Wörter aus natürlichen Sprachen, aber mit einer erfundenen Silbe enden, verleitete Forscher wie Paul Alphandéry dazu anzunehmen, dass die Wörter aufgrund physiologischer Besonderheiten Hildegards von Bingen so konstruiert wurden.
Schon Wilhelm Grimm vermutete 1848, dass Hildegard die deutschen Begriffe einem etwa 100 Jahre älteren Glossar entnommen hat und nahm aufgrund der inhaltlichen Ordnung auch die Etymologiae von Isidor von Sevilla als Quelle an. Reiner Hildebrandt konnte schließlich nachweisen, dass Hildegard für die Lingua Ignota und ihre Naturkunde das Summarium Heinrici verwendete, das maßgeblich auf Isidor basiert. Elias von Steinmeyer brachte die Glossen bei Hildegard und Herrad von Landsberg zwar bereits in Zusammenhang mit dem Summarium Heinrici, übersah jedoch die Quellenabhängigkeit. Auch Herbert Thoma verkannte 1958 die volle Bedeutung.[1]
Die Wörter der Lingua Ignota wurden in einem ebenfalls konstruierten Alphabet (Litterae Ignotae) verfasst, das jedoch an die lateinischen Buchstaben erinnert. Die Verwendung der Lingua Ignota scheint auf einzelne Ausdrücke in Hymnen und Briefen begrenzt zu sein.
Struktur
- 1. (Wörter 1–57): Gott und Mensch
- 2. (Wörter 58–188): Körperteile und Krankheiten
- 3. (Wörter 189–218): Kirche (Personen und Kirchengebäude)
- 4. (Wörter 219–340): Kultgegenstände und Gewänder
- 5. (Wörter 341–446): Welt (Stände und Berufe)
- 6. (Wörter 447–487): Zeitbezeichnungen
- 7. (Wörter 483–750): Gegenstände des täglichen Lebens
- 8. (Wörter 751–815): Bäume
- 9. (Wörter 816–935): Pflanzen
- 10. (Wörter 936–1011): Vögel
Beispiele
Lingua Ignota | Deutsch |
---|---|
Aigouz | Gott |
crizia | Kirche |
diveliz | Teufel |
iminois | Mensch |
isparriz | Geist |
luzeica | Licht |
vaniz | Weib |
Handschriften
- Wiesbaden: Rupertsberger Riesenkodex, f. 461ra–464ra.
- Berlin: StBPrK, Ms lat. qu. 674, f. 58r–62r
- Wien: Wien, Hofbibliothek, Ms 721, f. 490 ff. (verschollen)
Ausgabe
- Kurt Gärtner, Michael Embach: Lingua ignota und Litterae ignotae. In: Hildegardis Bingensis Opera minora II. (CCCM 226A), Turnhout 2016, S. 237–377.
Literatur
- Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen – Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Erudiri Sapientia. Band 4). Akademie-Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-05-003666-4 (zugleich Habilitationsschrift, Trier 2000). S. 252–286
- Kurt Gärtner: Althochdeutsch oder Mittelhochdeutsch? Abgrenzungsprobleme im Bereich der Glossenliteratur und ihre Bedeutung für die Sprachstadienlexikographie. In: Wolfgang Haubrichs, Heinrich Beck (Hrsg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Eine internationale Fachtagung in Schönbühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997. De Gruyter, 2000. ISBN 978-3-110-16316-2, S. 105–117
- Wilhelm Grimm: Wiesbader Glossen. In: Zeitschrift für Deutsches Alterthum, 6 (1848), S. 321–340. [Wiederabgedruckt in Ders.: Kleinere Schriften 3 (1882), S. 568–588]. (online)
- Reiner Hildebrandt: Summarium Heinrici: Das Lehrbuch der Hildegard von Bingen. In: Ernst Bremer, Reiner Hildebrandt (Hrsg.): Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie: II. Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Oktober 1992. De Gruyter, Berlin u. a. 1996. ISBN 3-11-014464-6, S. 89–110
- Reiner Hildebrandt: Historische deutsche Wortgeographie und Dialektlexikographie. Eine Fallstudie zum Wortschatz der Hildegrad von Bingen. In: Dialectologia et Geolinguistica, Band 1998, Heft 6, S. 43–54
- Reiner Hildebrandt, Thomas Gloning: Physica. Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum. De Gruyter, 2010. ISBN 978-3-11-021590-8, S. 29–41
- Jeffrey Schnapp: Virgin Words. Hildegard of Bingen’s Lingua Ignota and the Development of Imaginary Languages Ancient to Modern. In: Exemplaria, 3 (1991), S. 267–98.
Einzelnachweise
- Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen – Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (= Erudiri Sapientia. Band 4). Akademie-Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-05-003666-4 (zugleich Habilitationsschrift, Trier 2000). S. 252–286, hier: S. 274 f.