Lerntherapie
Lerntherapie ist eine spezielle pädagogisch-psychologische Förderung für Menschen mit Lern- und Leistungsstörungen. Je nach Ausbildung und persönlicher Neigung integriert der Lerntherapeut Elemente aus der Gesprächs-, Verhaltens- und Gestalttherapie, der Heilpädagogik, Ergotherapie und Kinesiologie, speziellen PC-Lernprogrammen sowie Methoden, die sich gezielt in diagnostisch begründeten, themenzentrierten Arbeitsdialogen auf die Auseinandersetzung mit den zu erlernenden Inhalten konzentrieren. Die Vielfalt der Vorgehensweisen orientiert sich an den Lernvoraussetzungen des Kindes, seinen Bedürfnissen, Schwierigkeiten und Stärken sowie an den gesetzten Zielen. Da Lerntherapie vom allgemeinen Ansatz her eine sehr individuelle Lehr- und Lernform ist, findet sie in Einzelförderung oder in Kleinstgruppen statt.
Bei den angebotenen Formen von Lerntherapie handelt es sich um ein weites Feld. Viele der Methoden und Ansätze sind nicht miteinander kombinierbar und schließen sich gegenseitig aus – je nach theoretischer und methodischer Orientierung des Instituts oder der Therapiepraxis. Eltern und Lehrer haben hier eine besondere Verantwortung, sich genau darüber zu informieren und abzuwägen, welche Lerntherapie für ein bestimmtes Kind und für die besondere Lernproblematik in Frage kommt (siehe auch: Qualitative Diagnostik).
Unterschiede zur Nachhilfe
Nachhilfe eignet sich für Schüler mit Wissenslücken in einzelnen Fächern, hervorgerufen durch versäumten Unterricht, eine „faule Phase“ oder einen Wechsel in eine leistungsstärkere Klasse. Lerntherapie ist eine außerschulische Förderung für Schüler, die gravierende Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen oder der Konzentration haben, oder die unter AD(H)S leiden. Bei ihnen ist ein Grundverständnis nachweislich nicht oder nur unzureichend vorhanden und kann nur langsam aufgebaut werden. Es gibt u. U. das Phänomen, z. B. bei Dyskalkulie oder bei der Legasthenie, dass Kinder zwar gute Noten erreichen, trotzdem aber keinerlei inhaltliches Verständnis für den Stoff besitzen. Eine Nachhilfe müsste in solchen Fällen bei jedem neuen Thema ganz von vorn beginnen, ohne tragfähige Grundlagen unterstellen zu können. Eine lerntherapeutische Förderung schafft im Unterschied zur Nachhilfe grundlegende inhaltliche und psychische Voraussetzungen für einen Neuanfang im Lernen. Lerntherapie beruht auf einer individuellen Diagnostik, die die besonderen Schwierigkeiten des Kindes aufgreift, um daran zu arbeiten. Sie macht sich nicht vom aktuellen Schulstoff abhängig, kooperiert aber mit den Lehrkräften. Psychoneurotische Sekundärproblematik und soziale Integrationsprobleme müssen in der Lerntherapie – insbesondere in ihrem speziellen Zusammenhang zur Lernproblematik – mit berücksichtigt und mit aufgearbeitet werden. Nur Methoden, die auf die Individualität und die speziellen – auch auf die über das reine Stoffverständnis hinausgehenden – Probleme des einzelnen Klienten abgestimmt sind, können im Unterschied zu Nachhilfe, die sich überwiegend am Schulstoff orientiert, als lerntherapeutisch betrachtet werden.
Kostenübernahme in besonderen Fällen
Wenn ein Kind an einer chronischen Lernstörung leidet und zugleich seelische Behinderung und soziale Isolation drohen oder bereits eingetreten sind, kann auf Antrag eine Lerntherapie über das Jugendamt finanziert werden (§35a SGB VIII). Die Regelungen sind je Bundesland und sogar innerhalb der Bundesländer stark vom jeweiligen Jugendamt (und Bearbeiter) abhängig. Diese bestimmen, welche Untersuchungen zum Zweck der Antragsbearbeitung durchgeführt werden müssen. Ebenso setzten sie maximale Stundensätze für die Therapie fest und weist die Eltern gegebenenfalls an pädagogische Hilfen weiter. Beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen besteht ein gesetzlicher Anspruch auf die finanzielle Förderung über das jeweilige Jugendamt. Krankenkassen haben schon seit 1998 pädagogische Maßnahmen wie Lerntherapien aus ihren Katalogen gestrichen.
Eine Kostenerstattung durch die örtlichen Jugendämter ist in der Regel nur bei bestimmten und dem Jugendamt bekannten Therapeuten möglich. In der Regel verfügen die Ämter über entsprechende Adressen und geben diese an die Antragsteller weiter. Die Rechtmäßigkeit dieser Listen ist jedoch umstritten, da diese auch wettbewerbsverzerrenden Charakter haben. In der Vergangenheit (Stand Okt. 2015) werden jedoch in Nordbayern auch immer wieder nachweislich erfolgreiche Lerneinrichtungen mit Therapien beauftragt, da eine grundsätzliche Wahlfreiheit der Eltern für die Ausführungskraft der Therapie besteht. Häufiger sind jedoch Lerntherapeuten mit akademischer Qualifikation, beispielsweise Pädagogen, Psychologen oder Lehrer beauftragt. Der Nachweis einer darüber hinausgehenden, speziellen lerntherapeutischen Qualifikation ist nicht zwangsläufig erforderlich.
Eine Kostenübernahme einer Lerntherapie bei einem Lerntherapeuten wird u. U. nur bewilligt, wenn eine schulische Förderung oder Binnendifferenzierung bereits erfolgt und als nicht ausreichend bewertet wird. Ein entsprechender Bericht ist dem ärztlichen Gutachten und dem Antrag auf Kostenübernahme u. U. beizufügen.
Für die steuerliche Absetzbarkeit (bei Privatzahlern) muss eine amtsärztliche Untersuchung vor Beginn einer Therapie durchgeführt werden und ein Nachweis der medizinischen Notwendigkeit der Maßnahme erbracht werden. Einige Finanzämter verzichten auf diese strengen Voraussetzungen für die Absetzbarkeit.
Qualifikation von Therapeuten
Qualifizierte Lerntherapeuten sollten umfassende Kenntnisse in ihrem Fachgebiet (Legasthenie/Lese-Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie, AD(H)S u. a.) besitzen und auch nach ihrer Ausbildung regelmäßig an verschiedenen Fortbildungen bei qualifizierten Instituten und Universitäten teilnehmen. Hierzu gehört auch die Gewährleistung externer Supervision.
Die anzuwendenden therapeutischen Methoden sind entsprechend einer individuellen Diagnose anzuwenden. Maßstab für Inhalt und Verlauf ist das Lernstörungsbild des jeweiligen Klienten. Ein guter Lerntherapeut erkennt, wenn weitere Hilfe von anderen Fachkräften erforderlich ist (Kinderarzt, Psychotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten und andere) und zieht diese hinzu oder verweist dorthin.
Der Begriff „Lerntherapeut“ ist in Deutschland nicht gesetzlich geschützt. Seriöse Lerntherapeuten sind somit von vornherein gezwungen, durch ihre Argumente in der Sache, ihr Auftreten, ihre authentische Selbstdarstellung und ihre Arbeit zu beweisen, dass sie zweckmäßig und erfolgreich arbeiten. Für die Klienten der Lerntherapeuten bzw. für die Eltern der Klienten besteht zugleich die permanente Anforderung, Argumente der Lerntherapeuten vor und bei Beginn sowie während der Therapie ständig zu beurteilen und abzuwägen, um Misserfolge und Enttäuschungen zu vermeiden.[1]
Sofern Lerntherapeuten selbst diagnostizieren oder Krankheiten bzw. Störungen behandeln, bedürfen sie nach § 1 Heilpraktikergesetz einer Approbation bzw. einer Heilkundeerlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz.
Flankierende schulische Maßnahmen
Zeitlich begrenzte Maßnahmen, die je nach Einzelfall differenziert von der Schule ergriffen werden, um eine außerschulische Förderung zu unterstützen, sind: Aussetzen der Zeugnisnote bzw. pädagogische Benotung, Befreiung von Klassenarbeiten bzw. entsprechenden Binnendifferenzierung, Entlastung bei der mündlichen Mitarbeit und bei den Hausaufgaben sowie im Idealfall Anpassung der Anforderungen im Unterricht an den individuellen Lernstand. Optimal wäre, wenn dabei die Erkenntnisse einer Lernstandsanalyse (im Sinne einer individuellen Förderdiagnostik) umgesetzt werden und nicht einfach auf niedrigerem Niveau geübt wird.
Für den Erfolg einer außerschulischen Förderung ist es oft mit entscheidend, dass Schüler nicht zugleich in der Schule mit Bewertungen (Noten, Lob und Tadel) belegt und auf ein rein ergebnisorientiertes Arbeiten (z. B. bei Dyskalkulie) verpflichtet werden, obwohl sie keine Verständnisgrundlagen für die geforderten Leistungen besitzen. In der Therapie soll gerade der Standpunkt des Verstehens verankert und in inhaltliche Lernfortschritte überführt werden. Um diesen Prozess einleiten zu können, sind Rücksichtnahmen durch die Schule in vielen Fällen erforderlich. Eine Lern- und Leistungspflicht mit Bewertungen, aber ohne Verständnisgrundlagen, führt dagegen meist zur Verschlimmerung der Lernstörung. Beobachtet werden auch psychoneurotische Sekundärfolgen und soziale Desintegration. Lerntherapeuten empfehlen hier, den gesetzlichen Rahmen so weit wie möglich auszuschöpfen. Die Therapeuten sollten sich beratend einschalten, wo gegenüber der Schule ein Beratungsbedarf besteht. Fast alle Schulgesetze und speziell die Verordnungen für Förderungen von Schülern mit pädagogischem Förderbedarf enthalten Ansätze und Formulierungen, um flankierende Maßnahmen ergreifen zu können, wenn vernünftige pädagogische Argumente dafür vorliegen.
Siehe auch
Literatur
- A. Metzger: Lerntherapie in Theorie und Praxis. Haupt Verlag, 2008, ISBN 978-3-258-07293-7.
- A. Metzger (Hrsg.): Lerntherapie. Wege aus der Lernblockade – Ein Konzept. Haupt Verlag, 2001, ISBN 3-258-06400-8.
- Ruth Sutter: Lerntherapie in der Praxis. Haupt Verlag, 2003, ISBN 3-258-06609-4.
- Ulrich Hain: Familiendynamik bei Belastung durch umschriebene Lern- und Leistungsstörungen Familiäre Bedingungen der Bewältigung dyskalkulatorische Entwicklungsstörungen bei Mädchen und Jungen. 1. Auflage. V&R unipress Verlag, 2008, ISBN 978-3-89971-457-9.
- S. Galonska, B. Stelzer: INTERDIKK – Interdisziplinäre Diagnostikkarte für Kinder. 2017, ISBN 978-3-947265-11-4.
- B. Rollett: Die Lerntherapie als Integrationsfeld von Psychologie und Pädagogik: Ein neues pädagogisch-psychologisches Berufsfeld. In: R. Olechowski, B. Rollett (Hrsg.): Theorie und Praxis - Aspekte empirisch-pädagogischer Forschung. Lang Verlag, Frankfurt 1994, S. 126–137.
- B. Rollett: Lerntherapie. In: H. Schiefele, A. Krapp (Hrsg.): Handlexikon zur Pädagogischen Psychologie. Ehrenwirth Verlag, 1981, S. 243–245.
- B. Rollett: Zum Konzept der Lerndiagnose und Lerntherapie. In: W. H. Tack (Hrsg.): Bericht über den 30. Kongreß der DGfP in Regensburg 1976. Hogrefe Verlag, Göttingen 1977, S. 236.
- U. Kraft, C. Stauffer, B. Indlekofer (Hrsg.): Lerntherapie - Geschichte, Theorie und Praxis. hep Verlag AG, Bern 2022, ISBN 978-3-0355-1973-0.
Weblinks
- Lerntypen, Lernstörungen, Lernbehinderungen und normale menschliche Vielfalt (neurologische Vielfalt)
- Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP e.V.) - Fachgruppe Teilleistungsstörungen und Lerntherapie
- Schweizerischer Verband der diplomierten Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten SVLT
- Linkkatalog zum Thema Lernschwierigkeiten bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Einzelnachweise
- http://www.rechenschwaecheinstitut-volxheim.de/eltern.html Mein Kind ist vielleicht rechenschwach – was nun ? (Elternratgeber)