Klaviersonate F-Dur (Čiurlionis)
Mikalojus Konstantinas Čiurlionis schrieb seine Klaviersonate in F-Dur (VL 155) während seiner Studienzeit in Warschau im Jahr 1898. Bei ihr handelt es sich historisch gesehen um die erste litauische Sonate überhaupt.

Eine Besonderheit des Werks liegt im kompositorischen Ehrgeiz. Zunächst einmal besteht die Sonate aus vier Sätzen, die eine Vortragsdauer von fast einer halben Stunde ausmachen, was sie wohl auch mit zu den längsten Klavierwerken von Čiurlionis macht. Generell sind Kompositionen dieser Größenordnung sehr unüblich für den Komponisten gewesen. Aber vor allem präsentiert die Sonate elegant und durchgehend die aufstrebenden und virtuosen Kompositionstechniken von Čiurlionis, die von breiten Arpeggien über imposante Tremoli bis zu kulminierenden Oktav-Wellen reichen.
Čiurlionis hatte erwiesenermaßen ein ziemlich ausgeprägtes Verständnis der Sonatenform. Darüber, dass Zygmunt Noskowski sein klassizistisches, über Friedrich Kiel an Beethoven geschultes Formverständnis auch seinem Schüler Čiurlionis vermittelte, besteht kein Zweifel. Sie ist in ihrer Art zunächst recht traditionell, was sich sowohl an dieser Sonate zeigt, ebenso an der ein Jahr später am Leipziger Conservatorium entstandenen Kęstutis-Ouvertüre und am Streichquartett in c-Moll. Freier wurde die Anwendung der Sonatenform in den sinfonischen Dichtungen Miške und Jūra, wo sie den Maßstäben der damaligen Zeit näherkam. Eine abstrakte Definition schuf Čiurlionis eine Dekade später. Die berühmten Gemäldezyklen, die er „Sonaten“ taufte, sind der Höhepunkt seines kompositorisch-zeichnerischen Œuvres.
Im regen Briefaustausch mit seinem Studienfreund Eugeniusz Morawski-Dąbrowa erwähnte Čiurlionis eine Sonate zu vier Händen, die allerdings genauso wie die zur selben Zeit komponierte Klaviersonate in cis-Moll (VL 156) nicht überliefert ist. Vermutlich war es eine Version der Sonate in F-Dur.
Aufbau
Erster Satz: Allegro moderato
Dem ersten Satz liegt hier traditionsgemäß die Sonatenhauptsatzform zugrunde, was sich durch die Vortragsbezeichnung Allegro moderato festigt.
In der Exposition stehen sich zwei Themen gegenüber, dessen Kontrast sich bereits durch die jeweilige Charakteristik äußert.
Für die harmonischen Abläufe im ersten Thema ist spezifisch, dass Akkorde voll angespielt und danach arpeggiert werden. Jenes Motiv wird weitergehend sequenziert, bis zur harmonischen Auflösung. Damit schafft Čiurlionis einen aufstrebenden und imposanten Charakter für das erste Thema:

Das in der Dominante stehende zweite Thema wird durch einen überaus natürlichen bzw. romantischen Doppelpunkt eingeleitet (siehe Score). Vortragsanweisungen sind bei Čiurlionis grundsätzlich selten, dennoch überschreibt Čiurlionis es mit „espressivo“, wohl, um den Kontrast zwischen dem ersten Thema zu verstärken. Die Harmonie ist zunächst einfach gehalten, wenn nicht sogar banal (schrittweise Bewegung leitereigener Dreiklänge). Nach und nach nimmt das Thema auch an markanter Artikulation zu. Die Schlussgruppe führt ein kleines Motiv durch und zeichnet sich durch eine vergleichsweise komplexere Harmonik aus.

Die Durchführung beginnt mit einer Rückung des ersten Themas nach As-Dur. Dort werden die virtuosen Elemente aus der Exposition periodisch gemischt abgearbeitet, bis wieder eine Modulation nach F-Dur stattfindet. Anschließend setzt die Reprise ein – mit dem zweite Thema in der Tonika. Der Satz endet allerdings nicht so ruhig, wie es bei der Exposition der Fall war. Eine nach Des-Dur gerückte Coda spielt auf das Andante in selber Tonart an. In der gewohnten Imposanz moduliert sie sehr schnell wieder nach F-Dur, wo der Satz lautstark endet.
Zweiter Satz: Andante
Dem durch vorangehenden Satz fast schon obligat gewordenen Andante liegt eine dreiteilige Liedform zugrunde.
Dritter Satz: Scherzo
Der dritte Satz ist ein Scherzo mit der Vortragsbezeichnung „Allegro vivace“. Es steht in der Taktart 2/4 – nicht typisch für diese romantische Kompositionsform. Das Scherzo steht außerdem in der Tonart b-Moll. Im Trio geht es in die Paralleltonart über, in die des vorigen Satzes. Es ist Čiurlionis einziges Scherzo geblieben (mit Ausnahme von vier Gemälden, die Teile von den gezeichneten Sonaten waren).
Vierter Satz
Der letzte Satz trägt keinerlei (Vortrags-)Bezeichnung und ist eine Mazurka in F-Dur, die in einer Sonate „unkonventionell“ ist. Diese Kompositionsform war oft ein Hinweis auf die nationale Identität, die in damaliger Zeit unterdrückt war. Der Satz ist eine von über dreißig erhaltenen Mazurkas des Komponisten.
Veröffentlichungen
Der Notentext der Klaviersonate in F-Dur wurde nur ein einziges Mal im Jahr 1993 (104 Jahre nach Fertigstellung) in einer Ausgabe von Birutė Vainiūnaitė publiziert. Er ist praktisch nicht mehr erhältlich. Ein Exemplar ist im Čiurlionis-Haus in Vilnius ausgestellt.
Es gibt mehrfache Einspielungen der Sonate von Rokas Zubovas und Mūza Rubackytė.