Herzog (Roman)
Der Roman Herzog[1] (1964) ist das Hauptwerk von Saul Bellow und beschreibt die Orientierungskrise des jüdischen Literaturwissenschaftlers Moses Herzog aus Chicago, der sowohl zwischen verschiedenen Frauen als auch verschiedenen Ideologien steht. Das Magazin Time zählt den Roman zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden; er war 4 Wochen lang in den Jahren 1965 und 1966 auf dem Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.
Inhalt
Der Literaturwissenschaftler Moses Herzog gerät in eine tiefe Persönlichkeitskrise: Nachdem er seine erste Frau Daisy und ihren gemeinsamen halbwüchsigen Sohn verlassen hat, scheitert auch die Ehe mit Madeleine, mit der er eine kleine Tochter hat. Madeleine betrügt ihn mit seinem früher besten Freund Valentine Gersbach, dem Moses aufgrund seiner Beziehungen noch eine gute Stellung beim Rundfunk in Chicago verschafft hatte.
Madeleine zuliebe gibt Herzog seine Universitäts-Laufbahn auf und zieht mit ihr wegen eines wissenschaftlichen Projekts für ein Jahr aufs Land. Aufgrund wachsender Konflikte zwischen ihnen kehren beide in die Stadt zurück, wo Herzog nun Vorlesungen an einer Volkshochschule hält. Madeleine trennt sich von ihm und setzt ihre Liebesaffaire mit seinem besten Freund fort, Herzog macht mit seinem Bruder eine Europareise, von der er aber labiler als vorher zurückkehrt. Mehr und mehr hatte er das Gefühl, dass er „entzweiging - auseinanderbrach“,[2] seine Vorlesungen werden verworren und er wird sonderlich.
Seine Selbsterforschung und seine Rechtfertigungen treiben ihn zu ersten Notizen, die sich allmählich zu Briefen an Freunde, Bekannte, andere lebende und tote Schriftsteller und zuletzt auch an Nietzsche und Gott auswachsen. In diesen Briefen nimmt Herzog nicht nur zu seinen privaten Anliegen, sondern auch zu sozialen (Armut, Landverteilung[3]) und politischen Entwicklungen (Kalter Krieg[4]) kritisch Stellung und erweist sich als linker Liberaler, dem auch der Marxismus nicht fremd ist: Er selbst könne sich mit einschließen, wenn er von den „Millionen verbitterter Voltairianer“ schreibe, deren Seelen mit zorniger Satire angefüllt seien.[5]
Nach den langen Schilderungen der Eskalation zwischen Madeleine und Herzog reflektiert er über seine japanische Freundin Sono[6] und über seine neue Partnerin, Ramona,[7] die besser als er selbst seine Bindungsängste und die Bedeutung seiner sich von ihm distanzierenden Frau (Madeleine) erkennen.
Schließlich reist er wieder in sein Landhaus, in dem er mit Madeleine gelebt hat, um seinem Sohn aus erster Ehe nahe zu sein, der ein Sommercamp besucht. Auf diesen letzten Seiten[8] gibt es mehr und mehr Hinweise auf eine Besserung seines Zustands, auf Gelassenheit und Freude über neu empfundene sinnliche Eindrücke der Natur.
Erzählweise
Der Eindruck der Unordnung in Herzogs Leben wird erzählerisch auch durch eine disparate Komposition des Romans vermittelt. So gibt es einen großen Unterschied zwischen den aufregend geschriebenen Passagen und einer Form- und Perspektivlosigkeit des Ganzen, einer Abwesenheit von Entwicklung und häufigen Unterbrechung der Erzählung durch viele Notizen und Briefe, die vom Leser wie Hindernisse in mimetischer Anstrengung mühsam zu übersteigen sind.
Der erste Satz des Romans, „Wenn ich den Verstand verloren habe, soll´s mir recht sein, dachte Moses Herzog.“, leitet Herzogs Leidensweg ein – und steht aber auch am Beginn seiner nachhaltigen Stimmungsverbesserung des Ausklangs.[9] Die plötzliche Wendung zum Besseren gegen Ende des Buches, „Wie herrlich schön ist es heute!“,[10] ist aber weder in der Figur noch in ihren Umständen angelegt. Herzogs Verrücktheit verliert sich also irgendwie und von ihm unverstanden aus seinem Leben und trotz fortbestehender äußerer Unaufgeräumtheit scheinen Gesundung, Glück und Seelenfrieden als Folge einer langen Erinnerungs- und Rechtfertigungsarbeit möglich: „So fing die letzte Woche seiner Briefe an.“[11]
Die lockere, vor- und zurückgreifende Assoziation der Szenen löst die Zeitstruktur der Handlung weitgehend auf. Statt einer linearen Abfolge entsteht ein Mosaik der Erinnerung, das nach und nach das vertieft und ausleuchtet, was am Anfang bald schon beschrieben ist: Madeleines Konversion vom Judentum zum Katholizismus, das Leben im Sommerhaus mit Madeleine, die wachsenden Konflikte zwischen ihnen, Herzogs zunehmende Arbeitsunfähigkeit, ihre lange Affäre mit seinem Freund, die Trennung, seine neue Freundin Ramona...
Die Erzählung wird so zu einer Figur der kreisförmigen Vertiefung in die Gegebenheiten: Herzog beschreibt seine Antagonisten und auch seinen Vater als „Dozenten der Realität“,[12] die ihn nach und nach in seiner Selbstreflexion an die Realität heranführen. Er nähert sich allmählich dem, was er immer schon geahnt hatte: Mit seinen Briefen ist er „auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen begann.“[13]
Anmerkungen zum Stil
Der Roman zeigt einen ungewöhnlichen Reichtum an rhetorischen Formen, die auch sein uferloses Erinnerungsmosaik lesenswert machen: ganze Passagen sind ironisch und selbstironisch geschrieben; er häuft Attribute als Asyndeta, verstößt mit Satzbrüchen gegen Lesererwartungen usw.
Der Roman bietet weiterhin eine überraschende Vielfalt an Figurencharakteristiken, die in vielen Dialogszenen (im Gespräch mit seinem Anwalt Simkin, einer früheren Schwiegermutter, mit einem Taxifahrer, beim Zuhören vor Gericht) wie en passant entwickelt werden.[14] Bellow schöpft aus der Quelle seiner scharfen Beobachtung und seiner Fähigkeit zu interessanten Darstellungen von Personen, Stimmungen, Dialogen. Immer wieder trifft der Leser auf Exkurse, die wie kleine Geschichten für sich stehen könnten und Bellows überbordende Gestaltungsfreude zeigen.
Experimentell ist auch das Schwanken der Erzählhaltung: Der meist personale Er-Erzähler steht der Hauptfigur sehr nahe (er berichtet von Herzogs Überlegungen, seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung anderer Figuren), ist aber nicht identisch mit ihm (der Erzähler gibt Rückblicke und erklärt); der Erzähler hat Humor und steht auf Seiten Herzogs, ist aber kein Besserwisser. Seine Ironie und Selbstironie scheinen zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur zu entspringen. Manchmal spricht der Er-Erzähler aber auch direkt die Hauptfigur an, wird ein Du-Erzähler,[15] der mit seinem alter ego dialogisiert – aber beim Schreiben der Briefe (Ich-Form) wechselt der Er-Erzähler nach oder vor den kursiv gesetzten Brieftexten gelegentlich auch zu einem Ich-Erzähler[16] – Moses Herzog ist also sowohl außer sich als auch neben sich und manchmal auch er selbst. Diese Erzähler-Wechsel sind der vielleicht wichtigste formale Hinweis auf die schwankende, sich selbst fremde Identität der Hauptfigur und auf seine Mühe, sich zu vergewissern, wer er eigentlich sei: Die Erzählweise ist Teil der Botschaft.
Rezeption
Almut Finck schrieb am 7. April 2005 in ihrem Nachruf auf Saul Bellow: "Saul Bellow (ist) selbst in seiner Heimat nicht mehr wirklich populär", was nicht an seiner Qualität, aber an seinen oft politisch inkorrekten Stellungnahmen liege. Schon in seinem ersten Roman Mann in der Schwebe "hat Bellow (...) bereits den Typus seines ´ramponierten Helden´ skizziert. (...) Ob Moses Herzog in seinem besten Roman "Herzog" (1964) (...) - Bellows Charaktere sind intellektuelle Exzentriker mt Hang zur Funken sprühenden Melodramatik. Zwiegespaltenne Metaphysiker des 20 Jahrhunderts (...) in der unnachahmlichen Bellowschen Mischung aus Nietzsche und Marx Brothers."[17]
Buchausgaben (Auswahl)
englisch:
- Herzog. Viking Press, New York 1964 (Erstausgabe).
- Herzog. Penguin, New York 2015, ISBN 978-0-14-310767-5.
deutsch:
- Herzog. Deutsch von Walter Hasenclever. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1965.
- Herzog. Roman. Aus dem Amerikanischen von Walter Hasenclever. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Schönfelder, Berlin: Volk und Wissen 1975, 517 S.
- Herzog. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-17870-4.
Literatur
- Hubert Zapf: Der Roman als Medium der Reflexion: eine Untersuchung am Beispiel dreier Romane von Saul Bellow (Augie March, Herzog, Humboldt's gift). (Hochschulschrift). Lang, Frankfurt am Main, Bern, 1981. ISBN 3-8204-6114-0.
- Alexandre Maurocordato: Les Quatre dimensions du Herzog de Saul Bellow. Lettres modernes, Paris 1969.
- Zachary Leader: The Life of Saul Bellow: To Fame and Fortune, 1915-1964. London: Jonathan Cape, 2015.
- David Mikics: Bellow's people: how Saul Bellow made life into art. W.W. Norton Company, New York [2016]. ISBN 978-0-393-24687-2.
Einzelnachweise
- Saul Bellow: Herzog. Volk und Wissen, Berlin 1975.
- Bellow, Herzog, S. 13.
- Bellow, Herzog, S. 73, 77.
- Bellow, Herzog, S. 71, 76 ff.
- Bellow, Herzog, S. 77.
- Bellow, Herzog, S. 251 ff.
- Bellow, Herzog, S. 262 ff.
- Bellow, Herzog, S. 457 ff.
- Bellow, Herzog, S. 5, 467.
- Bellow, Herzog, S. 458 ff.
- Bellow, Herzog, S. 471.
- Bellow, Herzog, S. 189, 220.
- Bellow, Herzog, S. 154.
- Bellow, Herzog, S. 311 ff., 329 ff., 331 ff., 334 ff.
- Bellow, Herzog, S. 101.
- Bellow, Herzog, S. 70 ff.
- Almut Finck: Spott ist alles, was ich habe. Meister des Widerspruchs: zum Tod des Literatur-Nobelpreisträgers Saul Bellow, Der Tagesspiegel 7. April 2005.