Die Wellen
Die Wellen, engl. The Waves (erschienen 1931 bei The Hogarth Press, London), ist Virginia Woolfs dritter und letzter der sogenannten experimentellen Romane nach Zum Leuchtturm und Mrs Dalloway.
Inhalt
Der Roman beschreibt die lebenslange, quälende Selbsterforschung einer Gruppe von sechs Personen. Im Mittelpunkt stehen Ausschnitte aus dem Leben dreier Frauen und dreier Männer von ihren gemeinsamen Stunden als Kinder bis in ihr höheres Alter. Die ihnen gewidmeten Episoden werden zehn Mal von kursiv gedruckten kurzen Zwischenspielen gerahmt, die die Impressionen eines Tages an der Küste von seinem sommerlichen Morgengrauen bis zu einem herbst- oder winterlichen Abend beschreiben. Zentral in diesen Einschüben sind unter anderem die titelgebenden Wellen, Symbol des Getragen- und zugleich des Verschlungenwerdens alles Lebendigen.
Der Übergang von den immer wieder Sonne, Strand, Garten und das Haus beschreibenden und kursiv gesetzten Zwischenspielen zu den Episoden der Figuren produziert einen Rhythmus von Wiederholung und Veränderung, in dessen Verlauf sich jener eine Tag an der Küste, der Wechsel der Jahreszeiten und das Leben der sechs Hauptfiguren erfüllen. Die Episoden aus dem Leben dieser drei männlichen (Bernard, Neville und Louis) und drei weiblichen (Jinny, Rhoda und Susan) Figuren werden von ihnen in der Form von Selbstgesprächen erzählt. Dieser Chor der Stimmen ist der eigentliche Inhalt des Romans.
Komposition und Erzählform
In den Zwischenspielen tritt im Gegensatz zu den Episoden ein anonymer Erzähler auf, der immer wieder den Veränderungen beim Sonnenstand, am Strand, an Garten und Haus im Tagesverlauf folgt – weniger in einer personalen Perspektive und mehr wie ein poetischer Forscher. Woolf schreibt bereits im ersten einleitenden Zwischenspiel einen an Vergleichen, Metaphern und anderen poetischen Formen reichen Stil, der seine Kraft in kurzen Sätzen und in für sich transparenten Passagen entfaltet. Wesentlich bestimmt werden diese Naturschilderungen von einem konsequenten Anthropomorphismus, beispielsweise in der wiederholten Beschreibung von Schaumkronen als turbantragenden Kriegern. Einerseits wird damit eine Analogie zwischen der Natur und der menschlichen Erfahrungswelt geschaffen, andererseits wird die Natur damit selbst als etwas Aktives, Lebendiges gekennzeichnet. In ähnlicher Weise hatte Woolf bereits im zweiten Teil ihres 1927 erschienenen Romans Zum Leuchtturm die Natur als etwas Lebendiges, in diesem Fall auch Besitzergreifendes dargestellt.
In den Episoden tritt der anonyme Erzähler dann hinter die Figuren zurück, denen er gleichsam reihum das Wort erteilt. Dieses Experiment der Zurücknahme des Erzählers liefert die Regie an die nach Zeit und Ort in einem vagen Jetzt sich äußernden Stimmen aus, deren Selbstanalysen zur eigentlichen Handlung des Romans werden. Was dabei in den einzelnen Sätzen und Absätzen bildhaft und poetisch erscheint, wird trotz der Strenge der Form in der Folge der Abschnitte und Episoden seltsam schwebend und abstrakt.
Die Verbindung der Hauptstruktur von Zwischenspielen und Episoden wird zunächst durch bestimmte gemeinsame Motive erreicht: zum Beispiel durch die Bilder der Wellen, eines Kriegers oder eines stampfenden wilden Tieres, deren Laute vom Strand herüber oder von irgendwoher in die Welt der Figuren dringen; oder verbunden durch den Gegensatz der Welt des Lichts und der Welt von Düsternis und Fäulnis; oder durch den alle Figuren mehr und mehr umtreibenden Gegensatz von Identität und Absonderung, von Gemeinschaft und Bürde des individuellen Lebens. Neben diesen einzelnen Motiven legt aber auch eine vergleichende Betrachtung größerer Strukturen der Zwischenspiele und der Episoden eine Parallelität nahe. Im selben Maße, wie während der Zwischenspiele der Zyklus eines Tages und eines Jahres mit zunächst sich erweiternder, dann aber am Ende des Textes sich wieder stark verengender Perspektive durchlaufen werden, um schließlich ganz am Ende des Buches in die einzeilige Beschreibung am Strand gebrochener Wellen konzentriert zu werden, sind auch die einzelnen Episoden von solch einer Veränderung der Perspektive geprägt. Sie beginnen zunächst mit gemeinsamen Kindheitserlebnissen an einem Ort. In den folgenden Episoden befinden sich die Charaktere zunächst an verschiedenen Orten in England, bevor auch Aufenthalte in Rom und Spanien – auch Afrika erscheint am Horizont – in das Erleben einzelner Figuren rücken, bis schließlich, gegen Ende des Romans, gleichsam mit dem Sonnenuntergang des vorangegangenen Zwischenspiels, allein die Figur Bernard übrigbleibt. Ihm gehören somit die erste und die letzte Äußerung in den Episoden.
In jeder der Episoden kommen die Stimmen nur in direkter Rede zu Wort, stereotyp eingeleitet mit einem: … sagte Bernard, … sagte Susan …. Die Berichte der Stimmen verwenden fast nur das Präsens: Da! Das ist mein Augenblick der Ekstase. Jetzt ist er vorbei. Vergangenheit/Perfekt und Zukunft/Futur spielen in diesen Momentprotokollen kaum eine Rolle. Dieses Verfahren beschreibt Bernard mit den Worten: Die Oberfläche meines Geistes gleitet dahin wie ein blassblauer Strom, der spiegelt, was vorbeizieht. Obwohl jede dieser Momentaufnahmen von einer Inquit-Formel begleitet wird, lässt sich nicht sagen, ob sie tatsächlich auch ausgesprochen werden oder nicht vielmehr eine Technik zur Verdeutlichung eines Bewusstseinsstromes sind. In diesem Fall sind die Mitteilungen der Figuren nicht als Artikulation zu verstehen. In Woolfs erstem Roman Die Fahrt hinaus möchte der junge Terence Hewet, angehender Schriftsteller, einen Roman über "die Stille" schreiben. In gewisser Weise realisiert Woolf dies in Die Wellen. Denn faktische Information und Beschreibung existieren in diesem Roman nur in der Stimme des Erzählers der Zwischenspiele. In den Episoden selbst sind diese Aspekte immer auf die Wahrnehmung des individuellen Bewusstseins einer Figur beschränkt und werden weder den anderen Figuren noch dem Leser durch eine tatsächliche Artikulation mitgeteilt.
Durch diese Technik der Wiedergabe sechs verschiedener Bewusstseinsströme entsteht die Multiperspektive des Romans. Dabei ist diese Technik von Woolf sehr eigentümlich ausgeführt. Bei einem Vergleich mit anderen herausragenden Werken, die die Technik des Bewusstseinsstromes nutzen, etwa James Joyce’ Ulysses, fällt auf, dass Woolf in Die Wellen einen Stil wählt, der im Wesentlichen von Rationalität sowie von logischer und syntaktischer Struktur geprägt ist. Idiosynkratische Eigenschaften der Sprache fehlen ganz, abgesehen von Louis australischem Akzent, der allerdings lediglich erwähnt, nicht aber dargestellt wird. Ebenso gleicht die Sprache der Kinder im Vorschulalter aus der ersten Episode der ihrer erwachsenen Entsprechungen ohne Unterschied. Die Unterschiede, die eine Entwicklung der Kinder zu erwachsenen Menschen erkennen lassen, liegen vielmehr in den wahrgenommenen Bildern und Symbolen, ebenso wie in deren unterschiedlicher Interpretation, die letztlich wieder auf die Technik der Multiperspektive verweist.
Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es allerdings auch einen Versuch, Ordnung und Einheitlichkeit zu erkennen. So ist gerade Bernard unter seinen Freunden für seine Geschichten bekannt, in denen er zeitlebens versucht, das zeitliche Nacheinander der Momentaufnahmen mit einem durchlaufenden Faden zu ordnen und zwischen Sätzen und Bruchstücken nach etwas Heilem zu suchen. Aber im Rückblick stellt er resigniert fest, dass das Leben … vielleicht nicht auf die Behandlung (anspricht), die wir ihm zuteil werden lassen, wenn wir es zu erzählen versuchen. Erzählung als Sinngebung, Sinngebung als Lebensentwurf – das erscheint Bernhard am Ende als ein hilfloses Konzept gegen Zufall und Unausweichlichkeit des Lebens.[1] Es sind diese Lebenserfahrungen Bernards vom Ende des Romans, die die Autorin sich gleichsam am Anfang ihres Schreibens zu Eigen zu machen scheint.
Figurenkonstellation
Schon die altklugen Kinder des Anfangs beziehen sich kaum aufeinander, scheinen nur ungefähr am gleichen Ort zur etwa selben Zeit zu sein, ohne in ihren Handlungen aneinander teilzuhaben. Die mehreren Ichs, die ihr Leben wie einen mehrstimmigen Traum in wörtlicher Rede erzählen, bleiben auch in ihren gegenseitigen Bespiegelungen als Erwachsene einsam, abstrakt und in der Zeit verloren.
Die Stenogramme ihrer Träume und Selbstgespräche spiegeln zunächst die Wahrnehmung der äußeren Welt. Erst allmählich, dann immer mehr wuchert die Reflexion über sich selbst, über das Konzept der Welt, und überwuchert den Bericht über Handlungen – die Figuren ergreifen nicht die Welt oder gestalten sie, sondern denken sie, jede für sich. Im Vergleich zu Virginia Woolfs anderen Romanen werden die sechs Hauptfiguren sehr sparsam als Individuen gezeichnet, bleiben mehr Schemen als dem Leben nachgebildete Figuren. Ihre Reflexionen kreisen um Einsamkeit und eigene Identität, um die ersehnte Verschmelzung mit den Freunden und die seltenen, kurzen Momente gemeinsamen Glücks. Nicht nur 130 Jahre, sondern ganze Zeitalter liegen zwischen z. B. den fünf Töchtern der Familie Bennet in Jane Austens Roman Stolz und Vorurteil und den sechs Hauptfiguren der Wellen.
Da die zwar unterschiedlich, aber eindimensional gezeichneten Figuren sich in ihren Reflexionen fast ausschließlich und mit wachsender Tiefe aufeinander beziehen, halten manche Kritiker sie für Facetten ein und derselben Person: Ein anonymer Erzähler scheint sich in unterschiedliche Ichs auseinanderzufalten und in den weiblichen Figuren zwischen Weltgenuss, Weltangst und Weltabwendung und in den männlichen zwischen überschießender Fantasie, Disziplin und Broterwerb zu changieren. Mehrfach spielen die Figuren mit ihrer Identität und Multipersonalität, als ob eine Persönlichkeit sich aufspalten, ihr Schicksal durch die sechs Farben verschiedener Biografien deklinieren und deren Gehalt an Einsamkeit vermessen wollte.
Deutung
Die Fremdheit der Erzählweise, die Vielfalt und Verschlingung der Motive machen das Werk bis heute zu einem der „schwierigen“ Bücher. Schon das Basiskonzept eines Tagesverlaufs, der mit dem Wechsel der Jahreszeiten und der lebenslangen Isolierung und Freudlosigkeit der Hauptfiguren in einem geheimnisvollen Rhythmus schwingt, ist so faszinierend wie verstörend. Gefangen in diesem Rhythmus, in den sich das Leben der Figuren unbehaust und hilflos gegenüber allen Erschütterungen einfügt, gibt es nur den einen Trost: Es gibt immer etwas, das man als nächstes tun muss. Dienstag folgt auf Montag; Mittwoch auf Dienstag, wie Bernard mehrmals in dem langen Monolog am Ende des Romans den Sinn seines Lebens umkreist. Es geht weiter, stellt er fest, aber warum?
Kein Wunder, dass einige Interpreten nach einer weltanschaulichen Gesamtdeutung oder nach einer im Werk enthaltenen speziell feministischen Sichtweise suchen. Andere rekonstruieren Parallelen der Hauptfiguren zu Freunden und Mitgliedern der Familie und zur fortschreitenden Verzweiflung der Autorin. Und wieder andere Ansätze finden in den von den Hauptfiguren geäußerten literarischen Konzepten einen poetischen Diskurs der Autorin, die mit einer zur Situation des Individuums im 20. Jahrhundert passenden Erzählform jenseits des Mainstreams ihrer Zeit experimentiert habe.
Manche Kritiker halten Die Wellen für ein Meisterwerk, viele aber auch für nicht sehr unterhaltsam. Bei allem Respekt vor diesem großen Experiment auf der Suche nach einer neuen Erzählform gilt für diese Kritiker, dass das Werk nicht mehr als Roman „funktioniert“. In diesem Werk, in dem Virginia Woolf vielleicht einer eigenen Erzählweise am nächsten gekommen ist, hat sie sich von ihren Lesern wohl am weitesten entfernt.
Buchausgaben
- The Waves. Hogarth Press, London 1931; dt., Die Wellen. Roman. Fischer, Frankfurt a. M. 1994, ISBN 3-596-12184-1.
Literatur
- Mark Hussey: Virginia Woolf A to Z: A Comprehensive Reference to Her Life, Works, and Critical Reception. Facts on File, New York, 1995, ISBN 978-0-8160-3020-0.
Einzelnachweise
- Willi Erzgräber schreibt zum Beispiel zur hoffnungsvollsten Person Bernard folgendes: „In seiner eigentümlichen Sicht des menschlichen Daseins sind epikureische und stoische Elemente miteinander gemischt: Er genießt den Augenblick, überlässt sich dem wellenartigen Auf und Ab des Lebens, dem pulsierenden Rhythmus der alttäglichen Geschäftigkeit, spürt dabei den Hauch der Vergänglichkeit und findet doch immer Kraft, dem Sog der Leere zu widerstehen. Das Bild des Reiters, der mit eingelegter Lanze unbesiegt und unnachgiebig dem Tod entgegenreitet, wird zum Inbegriff menschlicher Selbstbehauptung und Größe. Wenn auch Bernard im Kampf mit dem Tod wie Percival, sein Freund, der bei einem Ritt in Indien das Leben verlor, letztlich besiegt werden wird, bleibt er frei von aller Resignation und Todessehnsucht […] Es ist dies die Haltung vieler Helden in der modernen Literatur, für die im Sinne Nietzsches Gott tot ist, die jedoch lebend wie sterbend noch eine Spur menschlicher Würde zu bewahren versuchen.“ ( ders. in: 'Reiz der Wörter', Reclam, Stuttgart 1978, Seite 61)