Das Hexameron von Rosenhain
Das Hexameron von Rosenhain ist eine Sammlung von Erzählungen von Christoph Martin Wieland. Die Geschichten entstanden zwischen Januar 1802 und Januar 1803, wurden 1803/04 in Zeitschriften und 1805 in Buchform veröffentlicht. Der Zyklus besteht aus drei Märchen, einer Novelle und zwei Anekdoten. Gemeinsames Thema der Geschichten ist (wahre und falsche) Freundschaft und Liebe. Alle sind von dem für Wieland typischen auktorialen und sanft ironischen Erzählstil geprägt. Als Vorbilder für die Rahmenhandlung können Giovanni Boccaccios Decamerone, das Heptameron der Margarete von Navarra sowie Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gelten.
Inhalt
Vorbericht eines Ungenannten
In diesem Vorwort etabliert der Erzähler eine Herausgeberfiktion: Er behauptet, die Geschichten in einem Manuskript zugeschickt bekommen zu haben. Zudem wird die Rahmenhandlung wiedergegeben: Eine „auserlesene Gesellschaft liebenswürdiger und gebildeter Personen beiderlei Geschlechts“ lebt für mehrere Wochen im Schloss des fiktiven Ortes Rosenhain zusammen. Um sich die Zeit zu vertreiben, treffen sie sich abends, um sich in einer vorher ausgelosten Reihenfolge Geschichten zu erzählen. Sie einigen sich darauf, auf zu stark moralisierende Geschichten zu verzichten.
Narcissus und Narcissa
Ein Jüngling und ein Mädchen, beide gleichermaßen verwöhnt und selbstverliebt, sollen durch ihre Schutzgeister von ihrem schlechten Eigenschaften kuriert werden. Die Schutzgeister veranlassen den Jüngling, in das Heimatland des Mädchens zu reisen, sodass sich die beiden kennenlernen und sich ineinander verlieben. Zunächst sträuben sich beide dagegen, ihre Gefühle zuzulassen und zu bekennen, letztlich überwindet die Liebe aber ihren Stolz.
Daphnidion. Ein milesisches Märchen
Der Jüngling Phöbidas aus Thessalien trifft bei der Vogeljagd auf die wunderschöne Nymphe Daphnidion, die jedoch vor ihm flieht. Er verfolgt sie bis in eine Grotte, wo sie jedoch verschwindet und statt ihrer die Priesterin Dämonassa sitzt. Diese erzählt Phöbidas, Daphnidion sei ihre Nichte und stehe unter ihrem Schutz. Er bittet inständig darum, Daphnidion noch einmal treffen zu können. Dämonassa bietet ihm an, er könne sie entweder sehen, oder mit ihr reden, oder sie berühren, sie aber nicht mit mehreren Sinnen wahrnehmen. Er wählt die Berührung, als er sie jedoch bei der Hüfte greifen will, verschwindet sie und er muss die Höhle verlassen.
Er wendet sich an den Zauberer Hippalektor, der eine Entführung plant: Bei einem Fest wollen er und Phöbidas in Gestalt eines jungen Mädchens und ihrer Mutter erscheinen. Phöbidas soll Daphnidion beim Tanz einen Ring entwenden, der sie gegen Zauberei schützt. Dämonassa ahnt jedoch den Betrug und vertauscht die Gestalt ihrer Nichte mit der einer kräftigen Bauerntochter, der Phöbidas nun vergeblich versucht, den Ring zu entwenden. Beim Kampf um den Ring verwandeln sich beide in ihre echte Gestalt zurück, und Phöbidas wird der Zutritt zum von Dämonassa beherrschten Gebiet für immer untersagt.
Die Entzauberung
Die junge Rosalie von Eschenbach hat viele Verehrer, darunter den Ritter Alberich, ein Frauenheld, der es auf Rosalies großes Erbe abgesehen hat und glaubt, er habe bei der jungen, unerfahrenen Rosalie leichtes Spiel. Zudem ist Hulderich in sie verliebt, der Sohn eines Pächters, der auf den Ländereien von Rosalies reicher Tante lebt. Rosalie liest ständig Ritter- und Feengeschichten und spricht eines Tages den Wunsch aus, selbst einmal das Land der Feen zu betreten. Eine Fee erfüllt ihr diesen Wunsch, sie kommt in ein paradiesisches Land, wo sie auch auf Alberich trifft, für den sie inzwischen Gefühle entwickelt hat. Die Fee verzaubert Rosalie, sodass nach der Rückkehr ihre Schönheit durch Narben entstellt ist. Am selben Tag verliert ihre Tante durch den Bankrott eines Handelshauses einen großen Teil ihres Vermögens. Alberich bewirbt sich nun nicht mehr um Rosalie, da sie nun weder schön noch reich ist, Hulderich hingegen machen die Narben nichts aus.
In der Nacht bricht ein Feuer auf der Burg aus, Alberich flieht, und Hulderich rettet Rosalies Tante unter Einsatz seines eigenen Lebens. Rosalie erkennt nun, dass sie sich von Alberich blenden ließ und Hulderich viel mutiger und treuer ist. Aufgrund seiner Schüchternheit nahm sie ihn nur bisher nicht wahr, zudem ist er nicht „von Geburt“, also von Adel. Die Fee erscheint nun bei Rosalie, ihrer Tante, Hulderich und seinem Vater, um aufzuklären, dass sie Rosalies Narben und den Verlust des Vermögens verursacht hat, weil sie nur so Rosalie und Hulderich einander näher bringen konnte. Sie macht beides rückgängig, und Hulderich und Rosalie können zusammen glücklich werden.
Die Novelle ohne Titel
Don Lope Moscoso und seine Frau Dona Pelaja, zwei verarmte spanische Landadlige, bekommen zwei Kinder: Don Manuel und seine Zwillingsschwester Galora. Ein reicher Verwandter will Don Manuel als seinen Erben einsetzen, sobald dieser erwachsen ist. Sollte Don Manuel aber ohne eigene Nachkommen sterben, soll ein entfernter Verwandter namens Don Antonio das Erbe bekommen, damit es in männlicher Linie weitervererbt wird.
Die Zwillinge bekommen die Pocken und Don Manuel stirbt. Um das Anrecht auf das Erbe zu behalten, behaupten die Eltern aber, seine Schwester Galora sei gestorben, und ziehen fortan Galora als Jungen auf. In den Augen der Öffentlichkeit entwickelt sie sich zu einem angesehenen jungen Mann. Nach dem Tod der Eltern will er/sie einen „Mann von Erziehung, Lebensart und Weltkenntnis“ als Mentor zu sich holen, und gerät ausgerechnet an Don Antonio, der unter dem falschen Namen Alonso an Don Manuels/Galoras Hof kommt. Sie verliebt sich in ihn.
Kurz darauf wird eine junge Cousine Galoras namens Dona Rosa am Hof aufgenommen, die dort erzogen werden soll. Sie macht sich zunächst Hoffnungen, Don Manuels Frau zu werden, verliebt sich aber dann in Alonso/Antonio und erkennt, dass Don Manuel eigentlich eine Frau ist. Don Manuel/Galora wird ihre Verstellung zunehmend verhasst. Da sie zudem glaubt, sich keine Hoffnungen auf Alonso machen zu können, tritt sie nachts, nun zum ersten Mal in Frauenkleidern, in sein Zimmer und gesteht ihm alles. Alonso gesteht ihr daraufhin, in Wirklichkeit Antonio, ihr Konkurrent um das Erbe, zu sein. Galora verlässt am nächsten Tag den Hof, geht in ein Kloster und überlässt Antonio ihrer Nebenbuhlerin Dona Rosa.
Am Ende kehrt die Geschichte zur Rahmenhandlung zurück: Die Freunde in Rosenhain diskutieren, ob das eher harmlose Ende der Geschichte plausibel ist, oder ob ein tragisches Ende, bei dem Galora erst Antonio und Dona Rosa, dann sich selbst getötet hätte, passender gewesen wäre.
Freundschaft und Liebe auf der Probe
Die leichtsinnige, fröhliche Selinde und die ruhige, kluge Klarisse wachsen als beste Freundinnen zusammen auf. Als sie alt genug sind, wählen ihre Eltern Ehemänner für sie aus, nämlich Mondor und Raimund, die ebenfalls trotz ihrer Gegensätzlichkeit eine enge Freundschaft verbindet. Nachdem Mondor mit Selinde und Raimund mit Klarisse eine Weile verheiratet sind und der erste Zauber des Verliebtseins verflogen ist, fühlen die Männer sich immer mehr zur Frau des anderen hingezogen. Da die Geschichte in einer von Frankreich besetzten deutschen Provinz kurz nach der Französischen Revolution spielt, wurde die Scheidung kurz zuvor legalisiert. Die vier Freunde beschließen, sich scheiden zu lassen und die Ehepartner zu tauschen. Im folgenden Jahr bemerken sie jedoch, dass sie mit ihren ursprünglichen Partnern langfristig doch glücklicher sind, wenn sie keine zu hohen Ansprüche aneinander stellen und sich auf die Eigenheiten des Ehepartners einstellen. Also kommt es zu einem „Rücktausch“ und alle vier werden glücklich mit ihren ursprünglichen Partnern.
Die Liebe ohne Leidenschaft
Am nächsten Abend stößt ein neuer Gast zu der Gesellschaft in Rosenhain, der Baron von Werdenberg. Er erzählt folgende Geschichte: Der Graf von Falkenberg kommt auf einer Reise durch eine kleine Stadt, in der ein Jahrmarkt stattfindet. Er trifft auf eine Dame, die einen ganzen Laden leerkauft und alles unter der armen Bevölkerung verteilt. Sie geht ihm nicht aus dem Kopf und ein paar Tage später trifft er sie in einer anderen Stadt wieder. Er erfährt, dass sie Julie von Haldenstein heißt und sehr reich ist. Sie lädt den Grafen ein und erzählt ihm, dass sie wohl nie heiraten wird, weil sie nie wissen würde, ob sie für ihr Geld oder um ihrer selbst willen geliebt würde. Der Graf hingegen ist zu stolz, um eine Frau zu heiraten, die reicher ist als er. Die beiden stellen fest, dass sie über Vieles ähnlich denken und gute Freunde sein könnten.
In W., wo Julie von Haldenstein mit ihrem alten, kranken Onkel lebt, entsteht nun eine enge Freundschaft zwischen ihr und dem Grafen. Der Graf bemerkt, dass er sich immer mehr in Julie verleibt, was er aber nicht zugeben will, um seinem Grundsatz, keine „Geldheirat“ einzugehen, nicht zu widersprechen. Julie bemerkt seine Leidenschaft, und nachdem sie erfährt, dass er „eine der reichsten Partien im Lande ausgeschlagen“ hat, ist sie von seiner Integrität überzeugt und möchte ihn heiraten – nicht aus Leidenschaft, sondern aus Vertrauen in die tiefe seelische Übereinstimmung zwischen dem Grafen und ihr selbst.
Zum Schluss gibt der Baron von Werdenberg zu, dass er seine eigene Geschichte erzählt hat und die ebenfalls anwesende Nadine von Thalheim, die am Tag zuvor eine Geschichte erzählte, in Wahrheit Julie von Haldenstein ist.
Literatur
- Christoph Martin Wieland: Das Hexameron von Rosenhain. Herausgegeben von Peter Goldammer. Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, ISBN 3-7466-6031-9.
- Christine Mielke: Zyklisch-serielle Narration: erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2006, ISBN 978-3110186307. (Kapitel zum Hexameron: S. 300–307)