Danielle Sarréra
Danielle Sarréra (angeblich * 1932; † 1949 in Paris) ist eine fiktive französische Dichterin. Ob es sich um ein Pseudonym des Schriftstellers Frédérick Tristan handelt, wie er selber erklärt hat, oder die Sarréra zugeschriebenen Werke von einer anderen, noch unbekannten Person verfasst wurden, ist umstritten.
Identität und Rezeption
Hauptbestandteil der Danielle-Sarréra-Mythologie ist ihr Selbstmord. Als 17-Jährige soll sie sich am Gare de Lyon (Paris) vor den Zug geworfen haben. Außerdem habe die junge Ausreißerin in ihrer letzten Wohnstätte, einer Dachstube in der Rue Bonaparte 42, mehrere Schulhefte hinterlassen, vollgeschrieben mit Kurzprosa, die der Schriftsteller Frédérick Tristan in den 1970ern unter den Titeln „Oeuvre“ und „Journal“ publizierte. Die geheimnisvolle Autorin wurde damit zur literarischen Underground-Ikone. Zu ihrer Anhängerschaft zählten Feministinnen, aber auch zahlreiche junge Leserinnen, von denen manche ihr – nach der Lektüre – in den Tod folgten. Die Werke der Danielle Sarréra wurden ins Niederländische, Italienische und Englische übersetzt. Eine deutsche Version von „Oeuvre“ und „Journal“ erschien 1978 unter dem Titel „Arsenikblüten“. Vom Mythos und Werk der Danielle Sarréra ging eine stark inspirative Kraft aus. So schuf Valie Export zahlreiche Illustrationen zu den „Arsenikblüten“ und Rainer Werner Fassbinder ließ sie in dem Terroristendrama „Die dritte Generation“ (1979) rezitieren. In der Theater- und Performanceszene wurde sie von Schauspielerinnen wie Chady Seubert und Lilith Rudhart (beide Berlin), Bénédicte Trouvé (Berlin/Paris) und Hanne Dieserud (Oslo) verkörpert. Der Dichter und Dramatiker Paul M Waschkau (Berlin) initiierte 2003 im Berliner Orphtheater den 1. Danielle-Sarréra-Kongress. Die Erzählung Café Cancer des Autors und Journalisten Harald Harzheim transportierte den Sarréra-Mythos ins Horror-Genre. Die Dramatikerin und Prosaautorin Nino Haratischwili ließ sich vom Fall Sarréra zu ihrem Debütroman Juja inspirieren. In München wurde am 18. Juli 2014 die Kammeroper Arsenikblüten von Diana Syrse uraufgeführt.
Die Tatsache, dass nur die Texte und keinerlei Beweise für die Existenz der Autorin vorlagen, hat frühzeitig Zweifel an ihrer Identität aufkommen lassen. Schließlich gab der Herausgeber Frédérick Tristan zu, selbst Autor ihrer Texte gewesen zu sein. Danielle Sarréra sei der Name für sein „anderes Ich“ gewesen. Inzwischen hat Pierre Borel die Autorenschaft Tristans angezweifelt. Dabei beruft er sich auf editionsgeschichtliche Widersprüche und stilistische Differenzen zwischen den Sarréra-Texten und den Romanen Tristans. Sein Fazit: Die Verfasserin ist nach wie vor unbekannt.
Werk
„Œuvre“ und „Journal“ sind kleine Sammlungen von Kurzprosa. Die Autorin schildert darin ihr Martyrium inmitten einer mythologisch aufgeladenen Gegenwart, in der Antigone und Ophelia den Montmartre bevölkern. Sie ist eine gemarterte Prinzessin, imaginiert eine Welt, „wo seit langem keine Traube mehr reift, wo die Tiere alle die Lepra haben und die Menschen alle unter Schlaflosigkeit leiden“. Eine zentrale Gestalt ist der „Schädelbohrer-Ritter“ (alias Christus), mit dem sie eine pechschwarze Hassliebe verbindet. Während er sie vergewaltigt, liest sie im Johannes-Evangelium über seine Kreuzigung und freut sich über seinen dort beschriebenen, baldigen Tod. Sie weiß, dass sie – die Jungfrau – mit einem Kind schwanger geht, „dessen Schrei genügte, die Welten taub zu machen“. Sie, deren schielender Blick selbst einen finsteren Ostjaken in die Erschöpfung treibt. Und über all dem thront der „Schöpfer der Leere“. Ein gnostisch gefärbtes Weltbild, in dem sich die Ich-Erzählerin zwischen Ohnmacht, Lebendig-Begrabensein, Melancholie und dem Eingeständnis von der Vergeblichkeit jeder Liebe bewegt. Interpreten wie Bernd Mattheus haben die Texte als Ausdruck gesellschaftlichen Widerstandes interpretiert, während Pierre Borel sie als Ausdruck von Schizophrenie verstand. Die deutsche Ausgabe enthält Faksimile-Beispiele, die noch eine weitere Dimension der Werke offenlegen: Mitten in den Texten, geschrieben auf dem Kästchenpapier eines Mathematikheftes, finden sich Zeichnungen und Kritzeleien. Deren Motive, z. B. die Darstellung eines Mannes mit Gartenschere, der sich einer Blume nähert, artikulieren einen fast kindlichen Ausdruck von Hilflosigkeit.
Werke von Danielle Sarréra
- Œuvre. Le Nouveau Commerce, Paris 1974
- Journal. Le Nouveau Commerce, Paris 1976
- Deutsche Zusammenstellung als: Arsenikblüten. Matthes und Seitz, München 1978, ISBN 3-88221-205-5.
Literatur
- Rob van Erkelenz: Een Konigin van Tederheid. In: Danielle Sarréra: De ridder van de schedelboor, übersetzt von Rob van Erkelenz. Uitgeverij Perdu, Amsterdam 1993
- Pierre Borel: L’Agonie d’Antigone – Variations sur Danielle Sarréra. Libraire Nizet, Paris 1993
- Vincent Engel: Frédérick Tristan ou la guérilla de la fiction. Éditions du Rocher, Monaco 2000
- Harald Harzheim: Café Cancer. Berlin 2004, ISBN 978-3-937737-22-5
- Paul M Waschkau: Poesie & Ekstase, Mythos Danielle Sarréra. In: Zeitschrift für spezielle Poesie – ALASKA No.1, Berlin 2003, ISSN 1437-0506
- Nino Haratischwili: Juja. Roman, Berlin 2010, ISBN 978-3-940426-48-2
- Manuela Reichart: Ehre dem Tod. In: Die Zeit, Nr. 43/1978, Rezension der Arsenikblüten.