Boris Kaufmann
Boris Kaufmann (auch Coifman geschrieben; * 20. Januar 1904 in Attiki, Gouvernement Bessarabien; † um oder nach 1940) war ein russisch-staatenloser Mathematiker, der sich mit Topologie befasste.
Leben und Tätigkeit
Kaufmann war der Sohn eines Gutspächters. Bedingt durch die russische Revolution von 1917 verschlug es seine Familie nach Deutschland. Seit dem Sommersemester 1923 studierte er Mathematik an der Universität Heidelberg. 1930 promovierte er mit einer von Arthur Rosenthal betreuten Dissertation mit dem Titel Über die Berandung ebener und räumlicher Gebiete.[1] Die Arbeit war über das topologische Konzept der Primenden, die zuerst Constantin Caratheodory 1913 in die Theorie konformer Abbildungen eingeführt hatte und mit dieser Arbeit Kaufmann in die Topologie, und wurde ausgezeichnet. Die Theorie der Primenden wurde später von Stefan Mazurkiewicz (Fundamenta Mathematicae, Band 33, 1945, S. 177–228) und Hans Freudenthal (1952)[2] aufgegriffen.
Zu Beginn der 1930er-Jahre arbeitete Kaufmann an seiner Habilitation – deren Durchführung durch seine Staatenlosigkeit erschwert wurde[3] –, musste das Verfahren aber bedingt durch den Machtantritt der Nationalsozialisten, der sein Verbleiben an einer deutschen Hochschule unmöglich machte, abbrechen: Als – nach nationalsozialistischer Definition – jüdischer Staatenloser aus Russland sah er keine Perspektive mehr in Deutschland und siedelte über Frankreich nach Großbritannien über.
Nach der Emigration aus Deutschland im September 1933 schrieb er an den Academic Assistance Council (AAC, später SPSL, Society for the Protection of Science and Learning) in England, um Hilfe zu erhalten,[4] erhielt aber erst 1935 Unterstützung. Kaufmann war bis 1935 in Leeds (als special research student), wo er mit Harold Douglas Ursell zusammenarbeitete und veröffentlichte. Ursell wurde sein Freund und Mentor und gründete einen Hilfsfonds für ihn, als er 1940 ernsthaft krank wurde.[5] Kaufmann wurde 1935 eingeladen, in Cambridge Vorlesungen über Topologie zu halten,[6] und blieb dort bis 1938. Siegmund-Schultze zitiert aus der in der Bodleian Library in Oxford vorhandenen Akte über Kaufmann beim SPSL, dass Selig Brodetsky (Leeds) 1938 in einem Brief an ein Komitee deutscher jüdischer Emigranten in England empfahl, Kaufmann solle nochmals in Cambridge promovieren (Ph.D.), um in englischen Universitätskreisen Fuß zu fassen.[7] Genauere Angaben über sein Ende sind in der Literatur nicht vorhanden.
Von den nationalsozialistischen Polizeiorganen wurde Kaufmann nach seiner Emigration als Staatsfeind eingestuft: Im Frühjahr 1940 setzte das Reichssicherheitshauptamt in Berlin ihn auf die Sonderfahndungsliste G.B., ein Verzeichnis von Personen, die im Falle einer erfolgreichen Invasion und Besetzung der britischen Inseln durch die Wehrmacht von den Besatzungstruppen nachfolgenden Sonderkommandos der SS mit besonderer Priorität ausfindig gemacht und verhaftet werden sollte.[8]
Schriften
- Über die Berandung ebener und räumlicher Gebiete (Primendentheorie), Math. Ann., Band 103, 1930, S. 70–144, Online
- Über die Ränderzuordnung bei topologischen Abbildungen in der Ebene und im Raume, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1930.
- Parameterkurven ohne Halbtangenten, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1931.
- Über die Bestimmung der Primenden durch reguläre Komplexe, Mathematische Annalen, Band 106, 1932, S. 334–342, Online
- Über die Struktur der Komplexe erster Ordnung in der Theorie der Primenden, Mathematische Annalen, Band 106, 1932, S. 308–333 Online
- mit Ursell: The dissection of closed surfaces and the Phragmen-Brouwer-Alexandroff theorem, Proc. Nat. Acad. USA, Band 20, 1934
- mit Ursell: Note on reducible and irreducible dissections, Quarterly J. Math. Oxford, Ser. 6, 1935, S. 69–73
Literatur
- Renate Tobies: Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen, 2006.
Einzelnachweise
- Boris Kaufmann im Mathematics Genealogy Project (englisch)
- Freudenthal führte Enden in anderem Zusammenhang 1931 in die Topologie ein
- Reinhard Siegmund-Schultze: Mathematicians Fleeing from Nazi Germany: Individual Fates and Global Impact, 2009, S. 43.
- Colin Fletcher, Refugee Mathematicians, a German Crisis and a British Response, 1933–1936, Historia Mathematica, Band 13, 1986, S. 16
- Fletcher, loc. cit., S. 20. Er bezieht sich auf den Nachruf auf Ursell von L. C. Young, Bull. London Math. Soc., Band 2, 1970, S. 345. Dort steht, dass die Gesundheit von Kaufmann aufgrund großer Armut völlig zusammenbrach.
- Nach dem Lehrbuch von Alexandroff und Hopf, siehe A. H. Stone, Some topologists of the 1940s, in: C. Aull, R. Lowen (Hrsg.), Handbook of the History of General Topology, Band 1, Kluwer 1997, S. 105
- Siegmund-Schultze, Mathematicians fleeing from Nazi Germany, S. 114
- Eintrag zu Kaufmann auf der Sonderfahndungsliste G.B. (Wiedergabe auf der Website des Imperial War Museums in London).