Archaïscher Torso Apollos
Archaïscher Torso Apollos ist der Titel eines Gedichts von Rainer Maria Rilke. Mit den 1908 in Paris geschriebenen Versen beginnt der zweite Teil seiner Neuen Gedichte, mit denen er sich von seiner gefühlsorientierten Lyrik abwendet, um die Dinge gleichsam selbst sprechen zu lassen und den Menschen eine unmittelbare Erfahrung der sie umgebenden Welt zu ermöglichen.
Das Werk hält die überwältigenden Eindrücke fest, die der Betrachter eines Torsos des Gottes der Dichtkunst Apollon erfährt. Mit der auffordernden Sentenz seines letzten Verses (Du mußt dein Leben ändern) gehört das Gedicht zu den bekanntesten Werken Rilkes.
Struktur und Text
Der Form nach handelt es sich um ein Sonett mit jambischen Fünfhebern. Die Quartette verwenden umarmende, außen männliche, innen weibliche Reime. Das erste Terzett beginnt mit einem Paarreim, nach dem die Struktur in Form von Kreuzreimen wieder alternierend verschränkt wird ([fgfg]). Das Reimschema lautet demnach [abba cddc eef gfg].
Die Verse lauten:[1]
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
Hintergrund
Wie den ersten Teil seiner Neuen Gedichte leitet Rilke auch den zweiten mit (noch berühmteren) Versen ein, in denen der Dichtergott Apoll eine entscheidende Rolle spielt. Geht das erste, Früher Apollo betitelte Gedicht von dem spätarchaischen Kopf eines Jünglings im Pariser Louvre aus, der mit weitgeöffneten Augen durch die Betrachter hindurchblickte, ist das zweite Rilkes Faszination über einen Jünglingstorso zu verdanken. Während Gertrud Höhler von der bruchstückhaften Statue des Torso vom Belvedere (des Bildhauers Apollonius) als Ausgangspunkt spricht,[2] schreibt Wolfgang G. Müller lediglich, es sei „ein“ Jünglingstorso, den Rilke vermutlich im Louvre gesehen habe.[3]
Deutungen
Für Ulrich Karthaus stellt das Kunstwerk einen hohen Anspruch an den Rezipienten, vor dem dieser versagen kann. Die wachsende Macht des Lichts, die von dem Stein ausgeht, sei eine Metapher der Wahrheit. Der Imperativ „Du mußt dein Leben ändern“ ziele nicht auf eine Umgestaltung der Lebensweise und sei nicht mit dem Katalog religiöser Gebote zu vergleichen. Die aus dem Leuchten des Torsos glimmende Wahrheit, die sich zu einer sternenhaften Lichtexplosion steigere, erinnere an den Glanz, der in der Türhüterparabel Franz Kafkas aus der Tür des Gesetzes leuchte, eines Gesetzes, das ebenfalls nicht definiert werde. Es sei vielmehr ein individuelles Gebot des eigenen Lebens, ein noch nicht verwirklichtes Potential, das wir in erfüllten Momenten unseres Lebens jäh erkennen.[4]
Wolfgang G. Müllers Deutung geht in eine ähnliche Richtung. Er weist auf Rilkes „dynamisches Dingverständnis“ hin: Während der versunkenen Betrachtung in einen Gegenstand kann es zu dem kommen, was in ästhetischer Emphase häufig als Übergang oder Umschlag zu einem höheren Dasein bezeichnet wird. In besonderen, lyrisch verewigten Momenten intensiver Wahrnehmung, kommt es, so Müller, zu Vorgängen, die den Charakter einer Epiphanie haben können, Ereignisse, die für die ästhetische Moderne charakteristisch sind. Solche Damaskuserlebnisse, wie man sie etwa bei James Joyce und Virginia Woolf, Hermann Broch und Hugo von Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief findet, seien nicht im religiösen Sinne zu verstehen, sondern gleichsam als eine Überhöhung der Wirklichkeit, eines erschütternden Vorgangs, der das Dasein verkläre und sich in der Metaphorik des Gedichts zeige.[5]
Wie das den ersten Teil der Sammlung einleitende Apollo-Sonett kann laut Müller auch dieses Gedicht als komplexe Epiphanie interpretiert werden. Dies zeige sich im steten Gebrauch von Lichtmetaphern, welche die Teile der nur noch bruchstückhaften Statue verbinden. Hätte das Schauen des Gottes sich nicht in dem Torso erhalten, würde „der Bug / der Brust dich nicht blenden“ und der flimmernde Stein „bräche nicht aus allen seinen Rändern / aus wie ein Stern...“[6]
Peter Sloterdijk wählte des Gedichts letzten Satz aus, seinem Buch über den Imperativ den Titel zu geben. „Du musst Dein Leben ändern“ ist für Sloterdijk die Zusammenfassung, Verdichtung und Eindampfung aller religiösen Lehren, Übungsanleitungen und Trainings, die den Menschen auf seine „vertikalen Spannungen“ hinweisen und ihn erinnern, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden, über sich hinauszuwachsen und letztlich „mit einem Gott“ zu trainieren.
Literatur (Auswahl)
- Horst Turk: Die Sprache des unbeherrschbaren Schauens. Zur Metaphorik in Rilkes Archaïscher Torso Apollos. In: Fugen. Deutsch-Französisches Jahrbuch für Text-Analytik (1980), S. 213–232.
- Peter Horst Neumann: Rilkes Archaïscher Torso Apollos in der Tradition des modernen Fragmentarismus. In: Lucien Dällenbach/Christian L. Hart NIbbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität. Frankfurt am Main 1984, S. 257–274.
- Gerhard Kaiser: Stein und Sprache : Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“. In: Literatur für Leser (1988), S. 107–118.
- Gertrud Höhler: Götterfühlung. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke. Frankfurt am Main/Leipzig 1994.
- Ulrich Karthaus: Die Macht des Lichts. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke. Frankfurt am Main/Leipzig 1994.
Einzelnachweise
- Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos. In: Sämtliche Werke. Erster Band, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1955, S. 557.
- Gertrud Höhler: Götterfühlung. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke. Insel-Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 336.
- Wolfgang G. Müller, In: Manfred Engel (Hrsg.): Rilke-Handbuch, Leben - Werk - Wirkung. Metzler, Stuttgart 2013, S. 313.
- Ulrich Karthaus: Die Macht des Lichts. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke. Insel-Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 282.
- Wolfgang G. Müller, In: Manfred Engel (Hrsg.): Rilke-Handbuch, Leben - Werk - Wirkung. Metzler, Stuttgart 2013, S. 304.
- Wolfgang G. Müller, In: Manfred Engel (Hrsg.): Rilke-Handbuch, Leben - Werk - Wirkung. Metzler, Stuttgart 2013, S. 305.