Anscheinsvollmacht
Die Anscheinsvollmacht ist keine echte Vollmacht, schützt aber den Vertragsschließenden in seinem Vertrauen, der ihm gegenüber als Stellvertreter eines anderen Auftretende sei bevollmächtigt, im Namen dieses anderen rechtsgeschäftlich tätig zu werden. Der Vertragsschließende erhält – gestützt auf die Anscheinsvollmacht – einen Erfüllungsanspruch gegenüber dem Vertretenen, obwohl dieser keine Vollmacht erteilt hat.
Voraussetzungen
Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit der Vertragsschließende (nachfolgend der Dritte genannt) einen Erfüllungsanspruch gegenüber dem Vertretenen erhält:
- Der Vertretene muss dem angeblichen Bevollmächtigten, bewusst oder unbewusst, eine Stellung eingeräumt haben, aus welcher der Dritte schließen durfte, der als Bevollmächtigter Handelnde sei zum betreffenden Rechtsgeschäft tatsächlich bevollmächtigt.
Maßgeblich für die Frage, ob der Vertretene dem angeblichen Bevollmächtigten die auf Bevollmächtigung deutende Stellung eingeräumt hat, ist ausschließlich, wie der angebliche Bevollmächtigte das Verhalten des Vertretenen nach Treu und Glauben deuten durfte und musste. Hat sich der angeblich Bevollmächtigte seine auf Bevollmächtigung deutende äußere Stellung angemaßt, so entsteht kein Erfüllungsanspruch des Dritten. - Der Dritte muss beim Abschluss des Vertretergeschäftes gutgläubig gewesen sein. Das heißt, der Dritte darf beim Abschluss des Vertretergeschäftes weder Kenntnis vom Fehlen der Vollmacht gehabt haben, noch darf er aufgrund der Umstände Anlass zu Zweifeln an der Vertretungsbefugnis des angeblich Bevollmächtigten gehabt haben.
- In der Lehre und Rechtsprechung, vor allem in Deutschland, werden die Voraussetzungen auch anders gefordert. So verlangen die deutsche Lehre und Rechtsprechung in der Regel eine gewisse Häufigkeit des Auftretens des angeblichen Vertreters namens des Vertretenen sowie, zusätzlich, dass der Vertretene dieses Auftreten schuldhaft nicht verhindert hat.
Abgrenzungen
Die Anscheinsvollmacht ist keine Vollmacht, sondern eine Rechtsfigur, die, sofern die erwähnten Voraussetzungen erfüllt sind, den gutgläubigen Dritten schützt, obwohl der sich fälschlich als Bevollmächtigter Agierende gar keine Vollmacht besitzt. Es handelt sich also (jedenfalls gemäß der in Deutschland geltenden Rechtsauffassung) um eine Rechtsscheinhaftung.
Die Anscheinsvollmacht unterscheidet sich damit von der sogenannten Duldungsvollmacht, welche eine echte Vollmacht ist, die dadurch entsteht, dass der Vollmachtgeber es bewusst duldet[1], dass jemand als sein Bevollmächtigter auftritt, sodass der Bevollmächtigte (nach deutschem Recht alternativ auch der Dritte) nach Treu und Glauben annehmen durfte, er sei tatsächlich bevollmächtigt.
Da nach deutschem Recht die Vollmacht nicht nur durch Erklärung gegenüber dem Vertreter (sogenannte Innenvollmacht), sondern alternativ auch durch Erklärung gegenüber dem Dritten (sogenannte Außenvollmacht) begründet werden kann, liegt nach deutschem Recht in vielen Fällen, in denen Anscheinsvollmacht zu bejahen ist, gleichzeitig auch echte Außenvollmacht vor. Das trifft häufig dann zu, wenn der Dritte aufgrund der äußeren Stellung, die der Vertretene dem angeblich Bevollmächtigten eingeräumt hat, nach Treu und Glauben auf eine Außenvollmacht schließen darf.
Unter dem Begriff Anscheinsvollmacht wird in Lehre und Rechtsprechung im Übrigen nicht immer dasselbe verstanden. Oft wird unter Anscheinsvollmacht jene Form der Duldungsvollmacht, also eine echte Vollmacht, verstanden, die dadurch zustande kommt, dass der Vollmachtgeber es unbewusst duldet, dass jemand als sein Vertreter agiert, sodass dieser sich nach Treu und Glauben als bevollmächtigt halten darf. Die Anscheinsvollmacht, wie sie im vorliegenden Artikel verstanden wird, wird dann etwa Rechtsscheinvollmacht, Vollmacht kraft Rechtsscheins oder einfach Gutglaubensschutz genannt.
Trotz unterschiedlichster Terminologie ist der Schutz des gutgläubigen Dritten in seinem Vertrauen auf das Bestehen einer Vollmacht unter den oben genannten Voraussetzungen in der Regel unbestritten.
Gesetzliche Grundlagen
Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Anscheinsvollmacht gibt es weder im schweizerischen noch im deutschen Recht.
Es gibt in ersterem lediglich die Vollmachtskundgabe (zu der u. a. auch das Ausstellen einer Vollmachtsurkunde gehört), bei deren Vorliegen der gutgläubige Dritte in seinem Vertrauen auf diese Vollmachtskundgabe auch dann geschützt wird, wenn die Vollmacht nicht, nicht mehr oder anders besteht, als kundgegeben. Die Kundgabe kann ausdrücklich oder stillschweigend (konkludent) erfolgen. Ein Erklärungsbewusstsein des Kundgebenden ist nach schweizerischer Rechtsauffassung nicht erforderlich. Entscheidend ist, ob der Dritte das Verhalten des vermeintlich Kundgebenden nach Treu und Glaube als Vollmachtskundgabe verstehen durfte und musste (Vertrauensprinzip).
In Analogie zu diesem gesetzlichen Tatbestand der Vollmachtskundgabe hat das schweizerische Bundesgericht in einer reichen Praxis das Vertrauen des gutgläubigen Dritten auch in allen anderen Fällen geschützt, in denen der vermeintliche Vollmachtgeber dem vermeintlichen Bevollmächtigten eine Stellung einräumt, mit welcher nach Treu und Glauben die Vollmacht für bestimmte Rechtsgeschäfte verbunden ist.[2]
In Deutschland, wo der Schutz des Vertrauens in einen (schuldhaft) veranlassten Rechtsschein als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist, ist der Schutz des Dritten als Haftung für veranlassten Rechtsschein konzipiert.[3][4] Das Schweizerische Recht kennt, jedenfalls gemäß der wohl noch herrschenden Auffassung, keinen allgemeinen Schutz des Vertrauens Gutgläubiger beim Vorliegen von Rechtsmängeln, sondern schützt den guten Glauben nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen, die jedoch analogiefähig sind.
Abweichende Auffassungen
Von einem Teil der Lehre wird die Anscheinsvollmacht abgelehnt. Dieser Teil der Lehre stellt überwiegend auf willenstheoretische Auffassungen ab, gemäß welchen es für die Frage, ob ein Vertretergeschäft zustande gekommen ist, grundsätzlich und vor allem auf den Willen des Vollmachtgebers ankommt.
Dieter Medicus führt aus, dass nach der Systematik des BGB keine Haftung auf den Erfüllungsschaden bestehen könne. Im Gegensatz zur bewussten Kundgabe der Bevollmächtigung eines Vertreters in den § 171 Abs. 1, § 172 Abs. 1 BGB liege der Anscheinsvollmacht bloße Fahrlässigkeit zugrunde. Richtig sei daher lediglich ein Haftungsanspruch gegen den Vertretenen aus culpa in contrahendo in Höhe des Vertrauensschaden.[5]
Werner Flume hingegen verneint überhaupt die Existenz von Rechtsscheinstatbeständen. Das gesamte Stellvertretungsrecht fuße vielmehr auf Willenserklärungen; auch einer Duldungsvollmacht liege eine Willenserklärung zugrunde, ebenso sei eine Vollmachtsurkunde eine Willenserklärung “to whom it may concern”, die nur demjenigen gegenüber, welchem sie vorgezeigt wird, wirksam wird. Die Anscheinsvollmacht, welcher kein bewusstes Handeln des Vertretenen zugrunde liegt, wird von ihm somit abgelehnt, eine Haftung auf den Vertrauensschaden aus culpa in contrahendo sei bei entsprechenden Fällen die korrekte Rechtsfolge. Zudem führt Flume auf, dass die Anscheinsvollmacht entgegen der Auffassung des BGH nicht anerkannten Rechtsgrundsätzen entspreche und erst recht nicht Gewohnheitsrecht sei.[6]
Gerichtsentscheide
Einzelnachweise
- Musielak, Examenskurs BGB, Rn. 30
- BGE 120 II 197 ff., mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung
- Steffen, BGB-RGRK, 12. Aufl. § 167 Rdn. 19 mit weiteren Nachweisen
- vgl. auch BGHZ 86, 273
- Medicus, Dieter: Allgemeiner Teil des BGB, 9. Auflage, C. F. Müller, Heidelberg 2006, Rdn. 969 – 972
- Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts Band 2, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. 1992, § 49